Als Pearl Jam und ich uns 1991 kennenlernten war das Liebe auf den ersten Blick. In den darauffolgenden Jahren reisten wir gemeinsam quer durch Europa, saßen abends eng aneinander gekuschelt auf dem Sofa oder feierten Partys und meisterten zusammen die ein oder andere Lebenskrise. Wir waren unzertrennlich und fühlten uns wie Brüder. Seite an Seite traten wir für die gleichen Ideale ein. Wir glaubten, dass diese Verbindung durch nichts zu erschüttern wäre. Aber im Laufe der Zeit gerieten wir immer häufiger in Streit darüber, welcher Weg der richtige ist und schließlich mussten wir uns eingestehen, dass wir uns nichts mehr zu sagen hatten. 2011 nahmen wir in der Berliner Wuhlheide endgültig Abschied voneinander. Danach sahen wir uns nur noch ein einziges Mal wieder.
Wenn früher ein neues Pearl Jam-Album angekündigt wurde, herrschte zumindest bei mir Aufregung pur. Schon Wochen vor der Veröffentlichung begann die Jagd nach dem ersten Leak und alle möglichen (und unmöglichen) Kontakte wurden aktiviert, um an die neuen Songs zu kommen. Das hörte spätestens 2006 mit dem selbstbetitelten achten Album auf. Alles was danach kam (und das waren nur noch zwei weitere Alben) bestand größtenteils aus musikalischer Eintönigkeit und wurde eher routiniert zur Kenntnis genommen. Der Mangel an kreativen Ideen zeigt sich auch darin, dass die Band seit 2013 bis auf ein paar Singles und Soloarbeiten keinerlei neues Material mehr veröffentlicht hat.
Umso überraschender war darum Anfang des Jahres die Ankündigung des Labels, dass Ende März mit einem neuen Album aus dem Hause Pearl Jam zu rechnen sei. Im Gegensatz zu früher wurde der Release von einer großangelegten Promotionkampagne begleitet, die häppchenweise neue Videos und Gimmicks präsentierte. Das Ganze gipfelte schließlich bei „Quick Escape“ in einer Neuauflage des Spiels „Space Invaders“, das 1978 zu den ersten Videospielen überhaupt gehörte. Aber sei’s drum. Daran dass Pearl Jam-Alben von allerlei Werbegetöse begleitet werden, haben wir uns inzwischen wohl gewöhnt. Was zählt ist letztlich die Musik und nicht die Verpackung.
Dabei ist die Verpackung von „Gigaton“ durchaus gelungen. Das Cover zeigt ein Foto des kanadischen Fotografen, Filmemachers und Meeresbiologen Paul Nicklen mit dem Titel „Ice Waterfall“. Aufgenommen wurde das Motiv in Svalbard, Norwegen. Es zeigt den Nordaustlandet-Gletscher und wie er große Mengen Schmelzwasser verliert. Ein Verlust, der in Gigatonnen gemessen wird und dem Album seinen Namen gab. Ende Januar stellte Sänger Eddie Vedder die zwölf neuen Stücke bei einer exklusiven Listening-Session in Los Angeles vor und schenkte dabei nach Aussage einiger Beteiligter reichlich Tequila aus. Wir wollen hier lieber nüchtern an die Sache herangehen.
„Who Ever Said“ eröffnet den Reigen und sofort fühlt man sich in die 1990er Jahre zurückversetzt. Mit seiner dreckigen Gitarre hätte der Song auch gut auf „Vitalogy“ gepasst. Zwischendurch nimmt die Band das Tempo raus, was dem Stück etwas beschwörendes verleiht, bevor es wieder losgaloppiert. Ein fulminanter Auftakt, der so nicht unbedingt zu erwarten war. Das Niveau können Pearl Jam zwar nicht konstant über die folgenden 53 Minuten halten, aber schon jetzt wird klar, dass uns die Band mehr sagen will als „Hey, wir haben ein neues Album, also kauft es gefälligst“. Diesen Eindruck kann auch die zweite Singleauskopplung „Superblood Wolfmoon“ nicht verwischen, deren 08/15-Rock von Mike McCready’s toller Gitarrenarbeit leider nicht gerettet wird. Völlig untypisch fällt hingegen „Dance Of The Clairvoyants“ aus, in dem Eddie Vedder vor Synthieklängen und Discorhythmen seine Wut herausschreit. Eine sehr spannende Kombination. Das folgende „Quick Escape“ wirkt zunächst etwas langweilig. Der Song wird von Schlagzeuger Matt Cameron getragen und geht nach hinten raus richtig ab. Jetzt dürfte auch der Letzte begriffen haben, dass Pearl Jam auf „Gigaton“ keine Kompromisse (mehr) machen.
Diesen Eindruck unterstreicht „Alright“, das mit einer Spieluhrmelodie beginnt, um sich dann durch Vedder’s Gesang und die sparsame Instrumentierung zu einer echten Schönheit zu entfalten. Pearl Jam waren ja schon immer auch eine Band, die es verstand auf der großen Gefühlsklaviatur zu spielen. Bei „Seven O‘Clock“ wirkt Eddie Vedder im Gegensatz zum entspannten Grundgroove der Nummer allerdings etwas gehetzt. Der fast schon orchestrale Refrain wirkt dagegen eine Spur zu lieblich. Trotzdem ein Song, mit dem man sich wunderbar alleine auf einen Berg setzen und in die Ferne blicken kann. „Buckle Up“ stolpert luftig-leicht vor sich hin und zerfällt am Ende zu Staub. War was?
Im letzten Viertel des Albums wird es ruhig. Davor stehen mit „Never Destination“ und „Take The Long Way“ noch zwei solide Rocker, die punkig angehaucht und live deshalb bestimmt lustig sind. Mit der netten Akustikballade „Comes Than Goes“ geht es dem Ende von „Gigaton“ entgegen. Wahrscheinlich war das Stück noch von der letzten Eddie Vedder-Solotour übrig. Hätte nicht sein müssen (besonders nicht über sechs Minuten), stört aber auch nicht weiter. „Comes Than Goes“ fließt nahtlos in das ebenfalls balladeske „Retrograde“ über. Ein Song, der mit den schönsten Liebesliedern der Bandgeschichte mithalten kann. Ich hätte nicht gedacht, dass ich das jemals nochmal schreiben würde. „River Cross“ bildet dann den eindringlichen Schlussakkord und vor dem geistigen Auge sieht man, wie Boom Gaspar und seine Orgel zusammen mit Eddie Vedder auf einem endlosen Ozean dem Sonnenuntergang entgegen schippern und dabei zwischen Hoffnungslosigkeit und Zuversicht schwanken. Ein Eindruck, der noch längere Zeit nachklingt.
Am Ende gipfelt alles in der Frage: Sind Pearl Jam nach sieben Jahren des selbstauferlegten Schweigens noch relevant? Die Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. „Gigaton“ ist trotz einiger Längen ein überraschend abwechslungsreiches Album geworden. Vielleicht ist es sogar das beste seit „Riot Act“ von 2002. Die frühere Schwermütigkeit ist einer gewissen Experimentierfreude und damit verbundenen Frische gewichen. Ich will an dieser Stelle nicht so weit gehen zu behaupten, die Band habe sich mit „Gigaton“ neu erfunden, aber es macht wieder Spass ein Album von Pearl Jam zu hören. Ich glaube wir sollten uns mal wieder verabreden.