Long Distance Calling aus Münster ist keine Band, die dem Zeitgeist hinterherläuft – im Gegenteil. Ihr siebtes Album „How Do We Want To Live“ entstand vor der Pandemie und nahm fast schon prophetisch vorweg, was uns die nächsten Monate und Jahre beschäftigen sollte. Mit düsterem, instrumentalem Postrock ist das Quartett aus David Jordan und Florian Füntmann an den Gitarren, Jan Hoffmann am Bass und Janosch Rathmer am Schlagzeug seit Jahren an der Speerspitze progressiver Rockmusik aus Deutschland präsent. Zwischenzeitlich gab es immer mal wieder vokale Beimischungen und über einige Jahre gar einen Sänger, doch in den letzten Jahren hat man sich ganz der instrumentalen Musik verschrieben. Manche mag das abschrecken, doch ich kann euch versichern: Man vermisst weder Vocals noch Texte. Die eindringlichen Stücke sprechen für sich und die Themen ergeben sich aus Songtiteln, Melodien sowie strukturellen Elementen.
„How Do We Want To Live?“ erreichte 2020 aus dem Stand Platz 7 der deutschen Album Charts. Da die Band aus bekannten Gründen nicht in der Lage war, ihre neue Musik direkt unter die Leute zu bringen, beschloss man stattdessen, sich erneut in den kreativen Prozess zu stürzen. Zunächst entstand in einem abgelegenen Landhaus die Jam EP „Ghost“, die 2021 über das bandeigene Label Avoid The Light Records erschien und physisch nur exklusiv im Bandshop erhältlich war. Dafür startete die Band eine erfolgreiche Crowdfunding-Kampagne, um die Produktion zu finanzieren. Das Konzept folgte der Idee der 2014 erschienen „Nighthawk“ EP: Keine Vorbereitung, kein doppelter Boden. Nur eine Band, die zusammen aus dem Nichts Musik entstehen lässt, indem sich die Musiker in einer dreitägigen Jamsession Ideen zuwerfen, um damit zu spielen und diese direkt für die Ewigkeit festzuhalten. Experimentierfreude führte zu voluminösen Soundmalereien.
Und die Ideen gehen nicht aus. 2022 erscheint mit „Eraser“ endlich wieder ein vollwertiges Album. Das Endergebnis der neuen Kreativität ist sicherlich dazu bestimmt, eine der großen progressiven Platten des Jahres zu werden. Das achte Album von Long Distance Calling widmet sich erneut einem brandaktuellen Thema, als habe man die gegenwärtige gesellschaftspolitische Diskussion um Klimawandel und Zerstörung der Natur vorweg genommen. „Eraser“ ist eine direkte und herzliche Hommage an die allmähliche Erosion der Natur. Das auslöschende Element ist nicht – wie in so vielen SF Filmen – eine von außen kommende Katastrophe oder gar eine außerirdische Invasion, sondern natürlich der Mensch selbst, wie im letzten Track des Albums dargestellt.
Die Band hat das Album den gefährdeten Tierarten der Welt gewidmet, wobei sich in jedem Song musikalische Elemente wiederfinden, die auf ein vom Aussterben bedrohtes Lebewesen Bezug nehmen. Man nehme nur die Trägheit des Faultiers im psychedelischen „Sloth“, den Vogelflug im hymnischen „Giants Leaving“ und die hektisch wirbelndenen Honigsammler in „Blood Honey“. Vom majestätischen Raubtier in „Landless King“ ganz zu schweigen. Die Ideen sind einfach genial umgesetzt.
Während das in Ansätzen recht poppige „How Do We Want To Live“ mit sphärischen Klangteppichen und einem elektronischen Wall of Sound ausgestattet war, geht es auf „Eraser“ in eine hart rockende Richtung. Endlich wieder! – so möchte man sagen. Dominante Gitarren, starke Riffs und ein fetter Groove bereiten handwerklich perfekt den Boden für 57 eindringliche Minuten, die dem geneigten Hörer die Ohren schlackern lassen. Vom Konzept her erinnert die Idee an ein Klassik-Album wie „Karneval der Tiere“ (Camille Saint-Saëns) wobei die Vielfalt der Instrumente bei Long Distance Calling durch einen extrem vielseitigen Klangkosmos ersetzt wird.
Das kurze Intro „Enter: Death Box“ kommt mit einer melancholischen und zu Herzen gehenden Pianomelodie. „Blades“ ist dem Nashorn gewidmet und bietet ein Riffgewitter mit polyrhythmischem Schlagzeug und starken Akzenten im Bass. So geht es weiter zu anderen Tierarten wie dem Gorilla, dem Grönland Hai, Faultier, Albatros, Biene und Tiger. Zwischenzeitlich durchbrechen melodische Elemente die bedrohliche Kulisse. Jojo Brunn ist mit Pianoklängen am Start, auch Violine, Cello, Posaune und Trompete treten akzentuiert in Erscheinung. So entsteht eine emotionale Standortbestimmung der Extraklasse. Das epische Ende bildet natürlich der „Eraser“, der Mensch. Hier wird nochmal alles an Klangfülle, Bedrohlichkeit und Zerstörungskraft zusammengefasst, um einen wahrlich cineastischen Showdown zu ermöglichen, der aber auch die Melancholie der genannten Streichinstrumente impliziert. Alles in allem haben Long Distance Calling eine wild beschwörende und vielfältige Sammlung von Songs geschaffen. Knisternd vor Live-Energie, aber so nuanciert und atmosphärisch wie alles in ihrem Katalog, ist das Album ein weiterer kühner Schritt für diese höchst eigenwillige Band.
Ganz konsequent verfolgen Band und Label auch für die Vinylproduktion ein umweltfreundliches Konzept. Das Album ist als „Recycled Vinyl“ erhältlich, hergestellt aus 100% recyceltem Farbvinyl – jede LP ist somit ein Unikat und ich kann euch versichern, dass die „Clear Blue“ ein echtes Kunstwerk ist und wunderschön aussieht! HIER kann man diverse Formate vorbestellen. Das Albumcover zeigt eine nachempfundene „Earth’s Black Box“. Die Earth’s Black Box – von australischen Wissenschaftlern der Universität von Tasmanien zusammen mit Künstlern und Architekten entwickelt – sammelt Umweltdaten zur Klimakrise auf einer riesigen Festplatte. Aus diesen Daten sollen zukünftige Generationen bei einem Umweltkollaps der Erde lernen. Wäre vermutlich auch sinnvoll, dieses geniale Album digital hinzuzufügen und für die Nachwelt zu erhalten.