Eigentlich machen Wir sind Helden nur „Pause auf unbestimmte Zeit“ – und das schon seit über zehn Jahren. Seit dem Jahr 2000 hatten sie zuvor zwölf Jahre lang die Deutschrock- und Deutschpop-Szene ordentlich aufgemischt. Ihre Musik erinnerte an selige NDW-Zeiten, enthielt aber fast ausnahmslose kluge und hintergründige Texte. Mit der selbstbewusst auftretenden Judith Holofernes als Frontfrau wurde man Vorreiter einer Bewegung, die kurz darauf bis heute erfolgreiche Bands wie Silbermond und Juli hervorbrachte.
Nach dem (eigentlich vorläufigen, aber vermutlich endgültigen) Ende der Band legte Judith zwei lyrische Soloalben vor und nahm an der 2018er Ausgabe von „Sing meinen Song“ teil. Wer aber wirklich wissen will, wie es ihr nach dem Herabsteigen von der Karriereleiter ging, sollte sich diese Autobiographie reinziehen.
„Die Träume anderer Leute“ ist schon optisch ein Kunstwerk und eher eine Mischung poetischer Gedanken als eine chronologische Beschreibung von Lebensereignissen. Startend mit einem Blitzlicht, das Judith 2017 auf einem Sofa mit Henning May (AnnenMayKantereit) zeigt, geht es postwendend zurück ins Jahr 2010 und damit in eine Zeit, als sie Tourleben und das Großziehen ihrer Kinder unter einen Hut bringen musste. Auch die Beziehung zu Schlagzeuger und Ehemann Pola Roy spielt eine Rolle, wobei Voyeuristen vermutlich nicht auf ihre Kosten kommen werden.
Mit großer Klarheit und Zartheit und dem ihr eigenen Witz schreibt Holofernes über Fluch und Segen des frühen Erfolgs der Helden, über die Vereinbarkeit von Familie und Frontfrausein, über die öffentliche Wahrnehmung des eigenen Körpers, über das Aufwachsen mit ihrer lesbischen Mutter in Freiburg, über die tiefen Einschnitte in ihrem Leben, über die Zweifel und den Schmerz. Immer wieder geht es auch um die Musikbranche, um das Verhältnis zu ihren Fans, eigenartige Konzerte im Hellen, aber auch um die starren Mechanismen des Betriebs und den Sexismus.
Judith Holofernes beschreibt anschaulich, wie sie sich aus den Zwängen der Musikindustrie befreit hat und wie sie zur eigenständigen Künstlerin geworden ist. Dabei geht sie gar nicht so hart mit den Helden-Jahren ins Gericht. Vielmehr beschreibt sie neben den schönen Dingen auch ehrlich die Fallstricke und Widrigkeiten, denen man (nicht nur aber vor allem) als Frau in diesem Geschäft ausgesetzt ist.Dabei schlägt sie mitunter den Bogen zu großen Vorbildern wie Patti Smith, Beth Ditto, Joni Mitchell und Björk.
„Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück“, hieß es im ersten großen Hit der Band, mit dem auch ich von Beginn an verzaubert war. Die Rückkehr ins eigenständige Leben könnte jetzt zum großen Gejammer über Ungerechtigkeiten und Stolpersteine werden. Tut es aber nicht! Judith Holofernes ist zwar schonungslos offen, was ihre Erlebnisse angeht, sucht aber keine Schuldigen. Vielmehr erzählt sie mit viel Selbstironie und berührend emotional ihre Geschichte.
Soll man „Die Träume anderer Leute leben“ oder seinen eigenen Weg gehen? Judith will weiter schreiben – Musik, aber vor allem poetische Texte. Finanzieren lässt sie sich dabei über das Portal Patreon, also von ihren Fans. Das gibt ihr die künstlerische Freiheit, nicht komplett verstummen zu müssen. Die Autobiografie ist ein wichtiger Schritt, aber auch nur eine Wegmarke. Bleibt zu hoffen, dass wir noch viel von Judith Holofernes hören und lesen werden.