Wie steht auf Plakaten und Flyern? „Ian Anderson plays The Best of Jethro Tull“ – aber das ist Jacke wie Hose. Tatsächlich haben Jethro Tull sich offiziell im Jahr 2014 aufgelöst. Wie sich der schottische Sänger und Flötist mit seinem kongenialen Partner Martin Barre in die Haare bekommen hat, ist mir nicht bekannt. Aber wenn Altersstarrsinn mit schottischer Dickköpfigkeit zusammen treffen, gibt es sicher genug Reibungspunkte. Jedenfalls geht Barre seit 2012 mit eigener Band auf Tour und spielt alte Tull-Songs. Im Gegenzug veröffentlichte Anderson sein Werk „Thick As A Brick 2“ unter der Bezeichnung „Jethro Tull’s Ian Anderson“. Aber braucht man solche juristischen Spitzfindigkeiten? Eigentlich ganz egal. Kenner wissen, wer Ian Anderson ist. Und unter dem Publikum in Trier, bei dem ein riesiger Prozentsatz die 50 deutlich überschritten hatte, war wichtig, dass ihr musikalischer Held als Derwisch mit der Querflöte auf der Bühne steht. Mehr nicht.
Das Konzept sah ursprünglich vor, dass Ian Anderson zunächst sein Soloalbum „Homo Erraticus“ komplett zur Aufführung bringt, bevor es dann mit dem Besten von Jethro Tull weiter geht. Doch man konnte sich schon denken, dass er diese Idee im Lauf der Tour fallen lässt. Zu oft habe ich schon erlebt, wie Künstler sich so etwas auf die Fahne schrieben, aber letztlich aufgaben, weil das Publikum bei den neuen Sachen nun mal nicht mit geht und keine Stimmung aufkommt. Ich persönlich find’s schade, denn ich hatte mich sehr auf „Homo Erraticus“ komplett und am Stück gefreut. Aber für die Stimmung im Amphitheater war es wohl besser, die alten und neuen Songs zu durchmischen.
Das altrömische Ambiente war wie geschaffen für einen Rock-Dinosaurier. Ian Anderson ist neben seinen aktuellen Ergüssen sehr auf die Vergangenheit bedacht und bringt mit Unterstützung von Prog-Mastermind Steven Wilson den Backkatalog nach und nach neu zur Geltung. Gerade wurde „A Passion Play“ als Special Edition heraus gebracht. Kein Wunder also, dass die Zuschauer sich an einem extrem schwierigen Song wie „Critique obligue“ erfreuen durften.
Überraschend war dann aber doch, wie die neuen Stücke, beispielsweise „Doggerland“ und „The Engineer“, beim Publikum ankamen. Ian Anderson ist ein fantastischer Songwriter und schreibt lässig im Stil der 70er Jahre. „Homo Erraticus“ ist in Wirklichkeit auch „Thick As A Brick 3“, denn wieder steht Gerald Bostock im Mittelpunkt. Diesmal lautet die Story so, dass Bostock ein Buch namens „Homo Erraticus“ in Songtexte umgewandelt hat. Wiederum also ein astreines Konzeptalbum, das Schlüsselevents der britischen Geschichte mit Bezügen zu Prophezeiungen bis heute und in die Zukunft untersucht. Visionen vergangener Leben hervorgerufen durch Malaria, erschaffen die Charaktere durch deren Augen die Geschichten erzählt werden, wie die eines Steinzeitnomaden, eines Eisenzeit-Schmieds, eines christlichen Mönchs, eines Schankwirtes und sogar Prinz Alberts. Ob ich Konzeptalben liebe? Oh ja, das tue ich.
Man kann Ian Anderson seine Qualitäten im Studio gewiss nicht absprechen. Live blättert der Lack stimmlich ein wenig ab. Kein Problem: Er hat sich einen Musical-Sänger als Unterstützung dazu geholt. Ryan O’Donnell deckte sowohl große gesangliche Bereiche ab, er diente aber auch als dramaturgische Unterstützung und leistete einige schauspielerische Einsprengsel. Das funktionierte so gut, dass er oft Szenenapplaus bekam. Ian Anderson hingegen schonte seine Stimme bisweilen, war dafür aber an der Flöte um so mehr in Action. Schnell, energisch, bisweilen noch in alter Manier auf einem Bein stehend – das war wie in alten Zeiten. Besonders beeindruckend fand ich aber die selbstvergessenen Soloparts, wenn man Andersons Stimme durch die instrumentalen Töne mit hörte und er sich völlig zu verausgaben schien. Was hier an Show geboten wurde, war phänomenal.
Wir hörten „Sweet Dream“ und eine wundervolle Version von Bachs „Bourée“. Es gab „Teacher“ für hartgesottene Altfans und natürlich den Titelsong zu „Thick As A Brick“. Anderson lobte das Amphitheater und fühlte sich anlässlich der historischen Stätte genötigt, „Too Old To Rock’n’Roll: Too Young To Die“ anzustimmen. Außerdem gab es das folkige „Songs From The Wood“, das ich gerne mal als Highlight bezeichnen will. Vertrackte Arrangements, ein erzählerischer Vortrag. Die Mischung aus progressiven und folkigen Elementen mit ein klein wenig Musical war einfach stimmig. Den Siedepunkt erreichte das Amphitheater dann bei „Sitting on the park bench“, der ersten Textzeile des Songs „Aqualung“, und beim anschließenden Rausschmeißer „Locomotive Breath“. Da hielt es keinen mehr auf den Plätzen. Alles in allem war das Konzert ein schönes, rockiges Konzerterlebnis. Wie gesagt hätte ich mir mehr Theatralik und Showeffekte für eine Komplettlösung von „Homo Erraticus“ gewünscht. Aber was soll’s – das ist Jammern auf höchstem Niveau.
Die Konzertreihe im Trierer Amphitheater wird fortgesetzt:
1.8.2014 IN EXTREMO
2.8.2014 Adel Tawil
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