Oxford, Ende des 19. Jahrhunderts: Esme Nicoll wird nach dem frühen Tod ihrer Mutter von ihrem Vater großgezogen und verbringt einen großen Teil ihrer Kindheit unter dem Sortiertisch im sogenannten Skriptorium, wo ihr Vater mit an der Erstellung des Oxford English Dictionary arbeitet. Schon früh wird so ihr Interesse an Wörtern geweckt und sie beginnt, sie zu sammeln. Eine alte Koffertruhe unter dem Bett ihrer Freundin Lizzie – Hausmädchen bei Dr. Murray, dem Herausgeber des Wörterbuches – dient als Aufbewahrungsort für ihre Schätze und entwickelt sich im Laufe der Zeit zum „Lexikon der verlorenen Wörter“. Denn die liberale Einstellung ihres Vaters und die Unterstützung ihrer Patentante ermöglichen Esme, ihr Leben nicht nur auf Heirat und Hausfrauendasein auszurichten, sondern als Assistentin selbst im Skriptorium zu arbeiten. Dabei erkennt sie, dass die strengen und von Männern geprägten Regeln für die Aufnahme von Wörtern ins Oxford English Dictionary viele Wörter und Wortbedeutungen ausschließen, die nur umgangssprachlich oder hauptsächlich von Frauen verwendet werden. Um diese Wörter dennoch für die Nachwelt zu retten, legt sie nach und nach ihre eigene Sammlung an.
In ihrem Romandebüt „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“ verbindet Pip Williams die fiktive Lebensgeschichte von Esme mit der realen Geschichte des Oxford English Dictionary und den historischen Ereignissen dieser Zeit zu einer ungeheuer spannenden und informativen Erzählung. Detailreich und äußerst genau recherchiert gibt sie Einblick in die langwierige Entstehung eines Wörterbuches bis hin zu den Abläufen in der Druckerei. Die Figuren in Esmes Umfeld, wie Dr. Murray, und seine Töchter, der Mitherausgeber Henry Bradley und sogar ihre Patentante Edith Thompson, beruhen auf tatsächlichen Personen, auch wenn sich die Autorin bei ihrer Schilderung viele dichterischen Freiheiten nimmt. Eine bedeutende Rolle spielen im Roman und in Esmes Leben auch die Suffragetten-Bewegung mit ihrem Kampf für das Frauenwahlrecht und der erste Weltkrieg. Nicht zuletzt werden auch die sich allmählich wandelnde Rolle der Frau und die noch immer bestehenden Klassenunterschiede aus Esmes ganz eigener Sicht beleuchtet. Wie ein roter Faden zieht sich hier das erste verlorene Wort „bondmaid“ mit verschiedensten Definitionen durch den ganzen Roman.
Die Geschichte wird hauptsächlich aus Esmes Perspektive in der Ich-Erzähler-Form geschildert, wodurch man eine besondere emotionale Nähe zu dieser fiktiven Figur aufbaut. Die Autorin verwendet jedoch zwischendurch Briefe als Stilmittel, um auch die anderen Figuren sprechen zu lassen und insbesondere Ereignisse zu schildern, für die Esme selbst die Worte fehlen. Besonders schön sind auch die immer wieder eingefügten „Belegzettel“, also Wörter mit einer bestimmten Definition und einem belegenden Zitat, mit denen jeder gebildete Bürger Englands zum Oxford English Dictionary beitragen konnte. Genau so dokumentiert Esme auch ihre gesammelten Wörter – sie verwendet aber ebenfalls bestehende Belegzettel, um besondere Wörter in ihrer eigenen Geschichte zu markieren.
Am Ende des Romans schlägt Pip Williams dann auch noch den Bogen nach Australien, ihrer eigene Heimat und macht nicht zuletzt darauf aufmerksam, dass alle Wörter aller Sprachen es wert sind, aufgeschrieben zu werden. Mit „Die Sammlerin der verlorenen Wörter“ leistet sie selbst dazu vielleicht nur einen kleinen, aber umso schöneren Beitrag!