Als Autor begleitet mich Stephen King seit dem Jahr 1986, als ich zum ersten Mal seinen Roman „Es“ in die Finger bekam. Seitdem bin ich großer Fan und verschlinge im Prinzip alles, was aus der Hand des Meisters erscheint. Heute wird er 75 Jahre alt und das ist doch Grund genug, einen Blick auf sein neustes Werk „Fairy Tale“ zu werfen.
Wer Stephen King kennt, wird ahnen, dass es sich bei dem 880 Seiten starken Wälzer aus dem HEYNE Verlag um alles andere als ein Märchen handelt. Aber der Autor hat mal wieder hervorragend recherchiert und nimmt uns Leser*innen in seine ganz eigene Ausgestaltung fantastischer Welten mit.
Zum Inhalt des Buches will ich mal höchstens so viel spoilern, wie es der Klappentext tut: Der siebzehnjährige Charlie Reade hat kein leichtes Leben. Seine Mutter starb, als er drei war, und sein Vater ist dem Alkohol verfallen. Eines Tages offenbart ihm der von allen gemiedene mysteriöse Nachbar auf dem Sterbebett ein Geheimnis, das Charlie schließlich auf eine abenteuerliche Reise in eine andere, fremde Welt führt. Dort treiben mächtige Kreaturen ihr Unwesen. Die unterdrückten Einwohner sehen in Charlie ihren Retter. Aber dazu muss er erst die Prinzessin, die rechtmäßige Gebieterin des fantastischen Märchenreichs, von ihrem grausamen Leiden befreien.
Dabei lässt sich King wie fast immer sehr viel Zeit, um das Setting aufzubauen. Auf den ersten 200 Seiten lernen wir zunächst die Protagonisten der realen Welt ziemlich gut kennen. Dabei greift der Autor sehr lebendig auf eigene Erfahrungen zurück, wenn es beispielsweise um einen Autounfall, den Umgang mit Schmerzmitteln und die Arbeit der Anonymen Alkoholiker geht. So ist man schnell mitten drin in der Geschichte und die Hauptdarsteller sind mir absolut ans Herz gewachsen.
Um so verstörender ist es, wenn Stephen King wie gewohnt die trügerische Idylle stört und auf schreckliche Ereignisse der Zukunft hinweist. Das kann er mit einem wie zufällig hin geworfenen Nebensatz – und es ist jedes Mal ein kleiner Schock.
Nach dem ersten Viertel nimmt die Story plötzlich an Fahrt auf und wir gelangen mit Charlie in die Märchenwelt, über die ich gar nicht viel erzählen möchte. Man muss es selbst erleben. Nur so viel: King hat den 17jährigen Jungen schon im Vorfeld eine theoretischen Ausflug in die alten Erzählungen machen lassen, mit „Jack und die Bohnenranke“, „Der Zauberer von Oz“ und Elementen aus „Rumpelstilzchen“. Selbst die Erzählungen des großen Ray Bradbury spielen eine wichtige Rolle. So greift ein Puzzleteil ins nächste und man kann sich an Kings Ideenreichtum erfreuen.
Ich für meinen Teil war direkt drin in der Story, die zudem noch viel Gefühl zu bieten hat. Manchmal wirkt das Ganze wie eine Mischung aus der „unendlichen Geschichte“, wo auch ein Junge durch sein Agieren Einfluss auf die Geschehnisse der anderen Welt nimmt, und modernen Erzählungen wie „Stranger Things“, wo ein Tor in eben diese fantastische Welt führt. Gewiss sind auch Bezüge zu Kings großer Saga „Der dunkle Turm“ spürbar.
„Fairy Tale“ ist mal wieder eine wirklich epische Geschichte. Logisch und stringent aufgebaut, mit vielen Details und trotz der Fantasy-Elemente ganz aus dem Leben gegriffen. Wirklich enttäuscht wurde ich von Stephen King noch nie, aber dies ist definitiv eines seiner ganz großen Werke.