Es kommt, wie es kommen muss: Wenn Konstantin Wecker jemanden zum Reden braucht, richten sich seine Worte an den alten Freund „Willy“. Dabei steht dieser mutige junge Mann, der dem Liedermacher zum Karrierebeginn einen ersten großen Erfolg bescherte, als Synonym für die Zuhörer, die auch immer seine Ansprechpartner sind. Wenn Konstantin die Welt nicht mehr versteht, muss er seine Gedanken rauslassen und dem imaginären Freund erzählen. Das war 1977 so, als dieser Freund von Nazis brutal zusammengeschlagen wurde (im Song „Willy“ wurde er getötet), 1990, als sich Neonazis in Eberswalde zu einer rassistischen Hetzjagd versammelten und Amadeu Antonio zu Tode trampelten, 2015 wegen Pegida, 2018 wegen der AFD („den neuen Nazis“) im Parlament – und jetzt ist es wieder soweit, da sich der Tag jährt, an dem ein Faschist in Hanau neun Menschen ermordet hat. Für mich ist „Willy 2021“ (mal wieder) das Herzstück des Albums. Die Verzweiflung, der Unmut, die Emotionen, die Anklage, Konstantins Worte rühren zu Tränen, die Tränen der Trauer und der Wut sind. Der Song ist 44 Jahre nach seinem Erscheinen so aktuell wie über die ganzen Jahrzehnte.
Doch eigentlich soll das neue Album optimistisch klingen. Utopisch und schwärmerisch. Seine Orchester-Tour trug den Titel „Weltenbrand“. Wecker wollte auf die Zeit zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg hinweisen. „Ich habe mich mein Leben lang intensiv mit der Räterepublik beschäftigt. […] Was war das für eine blühende Zeit in der Weimarer Republik mit großartigen demokratischen Ideen wie dem Frauenwahlrecht und wie schnell ist das kaputt gegangen“, erinnerte er in unserem Interview 2019 und verwies damit auf die Gefahr, in der Demokratie stets schwebt, vor allem wenn rechtes Gedankengut in die Parlamente Einzug hält. Diesem düsteren Bild sollte „Utopia“ als Gegenentwurf folgen:
„Das nächste Programm heißt Utopia. Da werde ich die Grundidee dieses Weltenbrands weiterführen und sagen, wir dürfen nie die Utopie der herrschaftsfreien und liebevollen Gesellschaft aufgeben. Wenn wir nicht einmal die Utopie in uns tragen, dann sind wir rettungslos verloren. Dann haben die Angepassten, die uns immer als naiv, verrückt und als Spinner bezeichnen, gewonnen. Dann überrollen uns das Kapital und die Wettbewerbsgesellschaft. Das darf nicht sein. Aber ich bin guter Dinge. Die nächste weltweite Revolution muss eine weibliche sein, da bin ich mir ganz sicher. Es ist gar nicht anders möglich.“ (Lest HIER das komplette Interview.)
So ist „Utopia“ eines der vielseitigsten Werke von Konstantin Wecker. Weil es starke Songs enthält, gleichzeitig aber auch rührende Lese-Texte, die Weckers poetische Ader zeigen. Weil es im neuen Liederzyklus tatsächlich um eine Utopie geht. Um ein menschenwürdiges Leben ohne Herrschaft und Gehorsam, einen schwärmerischen Blick auf eine liebevolle Gesellschaft. „Mit Hilfe der Musik möchte ich Mut machen, alte Denkmuster zu durchbrechen.“ So richtet sich „An die Musen“ mit Freude und Energie in Richtung des poetischen Gedankenguts als glücksbesoffener Gegenpol zum Herrschaftsdenken. „Bin ich endlich angekommen?“ spricht von Altersweisheit und dem Verstehen, doch der folgende Text „Was mich wütend macht“ räumt auf mit ideologischen Mythen.
In „Wir werden weiter träumen“ und dem Titelsong „Utopia“ zeichnet Konstantin ein fast schon himmliches Bild. So schön könnte die Welt sein. Doch „Schäm dich Europa“ zeigt auch die Schattenseiten: die Flüchtlingskrise, Rassisten und Faschisten in den Parlamenten. Wecker kann immer noch den Finger in die Wunde legen. Und wenn man am Ende den „Willy 2021“ gehört hat, weiß man, das noch einiges zu tun bleibt.
Auch mit seinem neuen Werk ist er sich selbst treu geblieben, unverfälscht, eben echt. Wie in all den Jahren zuvor. Doch noch immer überraschen ihn seine Lieder und Texte mitunter selbst am meisten. Alle Titel bekamen nach dem Schreiben, bei den Aufnahmen mit seinen Musikern neue, bislang unerhörte Klangfarben. Ob als reine Klavierbegleitung, in Harmonie mit Cello und Gitarre oder auch unter der einfühlsamen Mitwirkung von Musikerinnen und Musikern der Münchner Staatsoper – immer folgt die Musik den sehr lyrischen und ganz und gar ehrlichen Gedichten. So gibt sich Konstantin Wecker auf „Utopia“ seinen Tönen hin und lauscht doch einer still verborgenen Pracht, die in geheimnisvoller Nacht aus dem Unerhörten fließt, gibt den Gedanken dankend dem Wind und lässt sie geduldig verwehen. „Das nämlich, was wir in Wirklichkeit sind, werden wir nie verstehen“, so der bayerische Liedermacher.
Zu hören sind auf der CD natürlich seine treuen Wegbegleiter Fany Kammerlander am Cello und Jo Barnikel am Flügel sowie der Münchner Schlagzeuger Thomas Simmerl und der österreichische Gitarrist Severin Trogbacher, der coronabedingt seine Parts aus dem eigenen Studio beisteuerte. Mit den Liedern seiner neuen CD möchte Konstantin Wecker den Menschen Mut machen, alte Denkmuster über Bord zu werfen. Gemeinsam mit seinem Publikum, das sich zu seiner großen Freude von ihm immer wieder überraschen lässt, bricht er zu einer aufregenden Reise nach Utopia auf. Wer sich darauf einlässt, dem eröffnet sich eine ganz und gar freie Welt voller Sehnsüchte und Träume und ja, auch mit Kriegern, die vor Liedern fliehen.
Auch mit 74 Jahren ist Konstantin Wecker noch ein unermüdlicher Kämpfer. Gegen Ungerechtigkeiten und Hass. Für eine utopische Welt voller Poesie und Zärtlichkeit. Für die Liebe. Und auch für Kunst und Kultur! Er ermöglicht vielen Menschen, ihre Kunst zu leben. Auf seinem Label Sturm und Klang, mit Unterstützung durch Duette und in Streaming-Konzerten.
Parallel zum neuen Album erscheint ein neues Buch: „Poesie und Widerstand in stürmischen Zeiten. Ein Plädoyer für Kunst und Kultur“. Dieser Mann darf noch lange nicht schweigen!