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Niedeckens BAP "Alles fliesst"

Unsere Wertung: 7 von 9 Punkten.

Niedeckens BAP pendeln auf „Alles fliesst“ zwischen Wut und Hoffnung

Als BAP 1980 mit „Affjetaut“ in mein Leben traten, begann eine Verbindung, die bis heute gehalten hat. Dazu trug natürlich der Umstand bei, dass die Band aus meiner Heimatstadt Köln kommt und die erste war, die den kölschen Dialekt auch außerhalb der Karnevalszeit über die Grenzen der Domstadt hinaustrug. Hinzu kam, dass BAP mit Wolfgang Niedecken über einen Frontmann verfügte, der mit seinen politischen und gesellschaftskritischen Texten zum Sprachrohr (m)einer Generation wurde und dessen Themen auch sonst den Nerv der Zeit punktgenau trafen. In den vier Jahrzehnten seitdem haben wir uns beide weiterentwickelt. Bei BAP gab es zahlreiche Besetzungswechsel, die nicht immer förderlich für ihre musikalische Entwicklung waren und die 2016 schließlich in einer Umbenennung zu Niedeckens BAP gipfelten. Auch ich habe meinen musikalischen Horizont seitdem natürlich erweitert, was dazu führte, dass die Band zwischen 1986 („Ahl Männer, aalglatt“) und 2008 („Radio Pandora“) zunehmend unter meinem Radar flog. „Radio Pandora“ führte uns schließlich wieder zusammen. Seitdem durfte ich Wolfgang Niedecken zweimal interviewen und ihn als einen Menschen kennenlernen, dessen Blick auf das Leben, die Liebe und unsere Gesellschaft so wach und klar ist wie eh und je und der mit „Halv su wild“, „Lebenslänglich“ oder „Das Märchen vom gezogenen Stecker“ nach wie vor großartige Alben veröffentlicht.

„Alles fliesst“ ist nun das insgesamt Zwanzigste in dieser Reihe. Der Titel ist eine Reminiszenz an den Fluss, dessen Verlauf durch Köln der Stadt eine „Schäl Sick“ beschert hat und der gleichzeitig ein Zeichen von Aufbruch und Vergänglichkeit ist. So sind einige Songs auf „Alles fliesst“ stark autobiographisch geprägt, was man sich als fast 70-Jähriger auch erlauben darf. Dabei verteilt Niedecken seine Lebensweisheiten klugerweise nie vom hohen Ross herab, sondern durchaus selbstironisch und bringt dabei sogar Verständnis für all diejenigen auf, die sich abgehängt fühlen und deshalb am Rockzipfel eines Populisten hängen wie in der bluesigen Spießerballade „Verraten und verkauft“.

Im AC/DC-mäßig abrockenden „Jeisterfahrer“ nimmt er das vergiftete gesellschaftliche Klima aufs Korn und blickt quasi als Spiegel dazu mit der atemlosen Polka-Nummer „Jenau jesaat: Op Odysee“ auf die seligen Anfangstage von BAP zurück. „Amelie, ab dofür“ ist die rechtmäßige Fortsetzung von „Frau, ich freu mich“ und „Morje fröh doheim“, nur dass er diesmal mit dem Auto im Berufsverkehr steckt. Das eindringliche „Ruhe vor dem Sturm“ warnt vor den Verführern der Marke Trump und seinen kleinen deutschen Ablegern. Der Schunkelblues „Huh die Jläser, huh die Tasse“ ist eine Verbeugung vor allen Corona-Helden und Klimaaktivisten. Dazu gibt es übrigens auch ein sehr schönes Video. Das Album erfasst das Leben in seiner ganzen traurigschönen Fülle.

Dazu gehören Trauer, Verzweiflung und Wut ebenso wie Euphorie, Glück, Liebe und Hoffnung. Das weiß auch Wolfgang Niedecken. So wirft er in „Volle Kraft voraus“ einen optimistischen Blick nach vorne. Dazu gibt es Vogelgezwitscher und Vinylgeknister. In „Mittlerweile Josephine“ setzt er seiner Tochter ein Denkmal, das jeder andere Vater vermutlich sofort nachbauen würde. „Für den Rest meines Lebens“ ist eine samtweiche musikalische Umarmung für seine Frau und „Alles zoröck op Ahnfang“ eine wunderschöne Ballade, die sich nahtlos in die Reihe wunderschöner Balladen in der langen Geschichte von BAP einreiht. Und nicht zu vergessen das abschließende „Wenn ahm Ende des Tages“, eine wunderbar sentimentale Ode an die Liebe und das Leben.

Musikalisch bewegen sich Niedeckens BAP auf „Alles fliesst“ zwischen solidem Rock („Besser du jehss jetz“), kräftigen E-Gitarren („Du häss dich arrangiert“) und leisen poetischen Momenten. Auffällig ist, dass Niedecken häufiger mal auf Hochdeutsch singt. Vermutlich damit auch der letzte dumpfbackige Vegankoch und die letzte Mannheimer Heulsuse seine Botschaft versteht. Die insgesamt vierzehn Songs haben zwar durchaus ihre Längen, aber für Wolfgang Niedecken war seine Kunst noch nie ein Grund zur Selbstbeweihräucherung, sondern immer ein Mittel, um Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu finden und damit zum Nachdenken und zur eigenen Reflektion anzuregen. Dass dabei nicht jeder mitgeht, liegt in der Natur der Sache. „Alles fliesst“ ist im Vergleich zu seinen neunzehn Vorgängern dabei irgendwo im oberen Drittel einzuordnen. Wolfgang Niedecken ist mittlerweile in der glücklichen Lage, dass er niemandem mehr nach dem Mund reden muss und das ist genau das, was dieses Album so wertvoll macht. Oder wie er selbst es im Opener „Hauptjewinn“ etwas holprig ausdrückt: „Man muss keinem was beweisen, nicht einmal Florian Silbereisen“. Jenau!

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Letzte Aktualisierung am 18.03.2024 um 22:16 Uhr / Affiliate Links / Bilder von der Amazon Product Advertising API / Bezahlte ANZEIGE