Durch die „MTV unplugged“ Veröffentlichung im Jahr 2019 kommt es mir noch gar nicht so lang vor – doch tatsächlich stammt das letzte Studioalbum der Folkrocker Santiano aus dem Jahr 2017. Fünf Jahre Abstand, um sich mal wieder aus dem Schatz seemännischer Motive zu bedienen und die musikalische Weite Schleswig-Holsteins zu neuem Leben zu erwecken.
Santiano haben innerhalb der deutschen Musiklandschaft Ziele erreicht, von denen die meisten nur träumen können: Millionenfach verkaufte Alben zu einer Zeit, in der physische Tonträger bereits als Auslaufmodell galten, Nummer-1-Platzierungen mit allen ihren Veröffentlichungen, ausverkaufte Tourneen durch die größten Hallen Deutschlands und sämtliche Musikpreise der Branche. Nun schreiben die Giganten des Shanty-Rocks ihre Geschichte mit dem fünften Studio-Album fort und stellen ihre Musik dabei in den größtmöglichen Zusammenhang. „Wenn die Kälte kommt“ ist ein Konzeptalbum, das musikalisch nahtlos am bisherigen Schaffen der fünf Nordmänner anknüpft. Ein Werk, das den Bogen über ein Jahrhundert der Seefahrt spannt und in dreizehn Songs an den Kern der Beziehung zwischen Mensch und Meer vordringt.
Zur Idee: Am 16. Juni 1918 brach der norwegische Seemann und Polarforscher Roald Amundsen auf eine Expedition auf, um als erster Mensch den Nordpol zu erreichen. Fast auf den Tag genau 103 Jahre später begann im Juni die Expedition des norddeutschen Polarforschers Arved Fuchs, der auf seiner „Dagmar Aaen“ an den Folgen des Klimawandels forscht. Und ebenfalls in diesem Jahr sorgte Boris Herrmann für Schlagzeilen mit dem dramatischen Finish seiner waghalsigen Solo-Weltumseglung im Rahmen der Segelregatta Vendée Globe. Vieles hat sich in den gut hundert Jahren seit Amundsen verändert: Es geht nicht länger darum, die feindliche Naturgewalt herauszufordern und zu bezwingen. Stattdessen sammeln wir Erkenntnisse, um unsere einzigartige Welt für uns und unsere Kinder vor weiterem Schaden zu bewahren. Doch noch immer suchen wir das Abenteuer, die eigenen Grenzen und den neuen Weg, den niemand vor uns gegangen ist.
Das ist der Leitfaden von „Wenn die Kälte kommt“, und mit diesem Gefühl im Herzen gingen Santiano an die Konzeption ihres Albums. Die epische Umsetzung des Titeltracks mit orchestralem Breitwand-Moment ist schon mal sehr gelungen, doch mir liegt zur Review leider nur die Standard-CD-Version mit den aneinander gereihten Songs vor. Ich muss ehrlich sagen: Die reißen mich nicht vom Hocker. Gefällige Seemannslieder im rockigen Gewand – okay. Aber die drumherum erzählte Geschichte fehlt dann doch.
Vermutlich kommt das in der „Deluxe Edition“ besser, wo auf der zweiten CD die Stücke in die erzählte Geschichte (gelesen von Klaus Esch) eingebunden sind. Schließlich gibt es einige intensive Momente in der Tracklist. So haben Santiano mit „An’t Enn vun de Welt“ wieder einen Song in plattdeutscher Sprache aufgenommen und mit einer deutsch/englischen Version des schwedischen Traditionals „Vem kan segla förutan vind“ („Wer kann segeln ohne Wind“) einen der schönsten, stillen Momente ihrer bisherigen Karriere geschaffen.
Da im Moment keine Folkrockband an dem Superhit „Wellerman“ herumkommt, hat man sich für den Bonustrack Nathan Evans eingeladen und schmettert den Nummer 1-Shanty in einer fetzig-rauen Version. Das macht Spaß!