Es war mal wieder an der Zeit für die große Gemeinde des Progressive Rock, auf den Felsen zu pilgern. Ein wichtiges Datum im Terminkalender weltweiter Fans, die sich von Melodic Rock, Artrock, Progmetal und ähnlichen Spielarten begeistern lassen. Wer hätte das gedacht, als am 28.7.2006 das Festival erstmals über die Bühne ging – damals noch eintägig und mit Altmeister Fish als Headliner. Inzwischen fand die „Night of the Prog“ bereits zum zwölften Mal statt, wurde auf drei Tage ausgedehnt und gilt als Open-Air-Heimstätte junger, innovativer Progbands ebenso wie als Spielwiese für die Veteranen des Genres. Veranstalter Win Völklein hat seit Jahren eine Händchen dafür, eine gesunde Mischung darzustellen und die aktuelle Szene ebenso abzubilden, wie mit vielen Heroen als Headliner ein nostalgisches Publikum anzulocken. In den Abendstunden stand auch diesmal die Nostalgie im Vordergrund: Es gab Titel von King Crimson, Genesis, Yes, Manfred Mann’s Earth Band und den unverwüstlichen Marillion.
Am Freitag konnte ich aus beruflichen Gründen leider noch nicht vor Ort sein, doch einige Anwesende schwärmten noch an den nächsten Tagen von der atmosphärischen Stimmung, die Crippled Black Phoenix schufen, und von dem neuen virtuosen Projekt „Shattered Fortress“, das Mike Portnoy ins Leben gerufen hat. So kam ich am Samstag gegen 17 Uhr auf das Gelände, das momentan kräftig umgebaut wird. Die alte Bühne mit ihrem Zeltdach-Flair ist einem stabilen Konstrukt gewichen, das bombastisch in die Höhe geht, während die Grundfläche der Bühne gleich geblieben ist. Auf jeden Fall sind die technischen Möglichkeiten besser geworden – wenn auch etwas vom ursprünglichen Charme fehlt. Der Eingangsbereich wurde nach oben verlegt, in den Zuschauerreihen ist aber alles gleich geblieben: die Liegeplätze unter den Bäumen, die oberen Terrassenplätze zum Aufstellen von Klappstühlen und die gewohnten Steinreihen, wo man sich mit Decken oder Sitzkissen einen Platz reservieren konnte – alles gemütlich und entspannt wie immer.
Ich traf pünktlich zur David Cross Band ein. Der ehemalige Violonist von King Crimson hat eine beeindruckende Band um sich versammelt und spart nicht mit der Verwendung von Instrumenten, die über das gewohnte Bild einer Rockband hinaus gehen. Es gab spannende Klänge von Geige, Querflöte und Saxofon. Zu Beginn spielte David Cross eigene Titel wie das ungewohnt harte „Sign Of The Crow“, ein sphärisch verspieltes „The Pool“ und das melodische „Rain Rain“. Spannende Stücke, die allesamt mit feinen Jazz-Anleihen versehen sind und fürs entspannte Zurücklehnen relativ ungeeignet waren. Das Publikum dankte es dem Briten mit riesigem Applaus und stehenden Ovationen zum Schluss, als es aus der Mottenkiste auch noch Songs von King Crimson im Repertoire gab. Für mich ein gelungener Einstieg in den Konzertabend.
Es folgte Ray Wilson, auf den ich mich persönlich sehr freute. Man wird ihm sicher nicht gerechnet, wenn man ihn auf sein One-Hit-Wonder „Inside“ reduziert oder auf seine kurze Zeit als Sänger von Genesis. Auch sein Solowerk ist absolut hörenswert. Davon gab es diesmal auf der Loreley allerdings wenig. Sein Konzertset stand unter dem Motto „Calling All Stations“. Das war das Genesis-Album, das Ray als Sänger mit einspielte. Es enthält keine Superhits der Band, ist aber ein durchaus solides Werk, das mehr Beachtung verdient hätte. Und es war eine Freude zu sehen, wie Ray durch die Kulisse aus mehreren tausend Fans zu Glanztaten angespornt wurde.
Er startete mit zwei Genesis-Klassikern und dem Solotitel „Take It Slow“, bevor er „Calling All Stations“ und den Progtitel „The Dividing Line“ vom gleichen Album zum Besten gab. Später wurden „There Must Be Some Other Way“, „Not About Us“ und „Congo“ eingestreut. Damit war das Mottowerk des Abends gut vertreten, wenn ich mir auch noch einige der sonst nie gespielten Stücke gewünscht hätte. Sei’s drum – stattdessen gab einen fulminanten Genesis-Set mit einem gefeierten „Carpet Crawlers“ und einem düsteren „Mama“, die zweifelsohne zu den Konzerthöhepunkten zählten. Auch das 90er-One-Hit-Wonder „Inside“ wurde gespielt und als Zugabe kam „Solsbury Hill“. Da war dann auch kein Halten mehr und der komplette Felsen feierte einen gut aufgelegten Ray Wilson ab, der in gut 100 Minuten einige progressive Highlights spielte. Dabei will ich auch „Makes Me Think Of Home“ nicht vergessen, dass als Titelstück seines aktuellen Albums gut in den Set passte.
Setlist Ray Wilson, 15.7.2017, Loreley – Night of the Prog
No Son of Mine (Genesis)
That’s All (Genesis)
Take It Slow
Calling All Stations (Genesis)
The Dividing Line (Genesis)
Home by the Sea (Genesis)
There Must Be Some Other Way (Genesis)
Makes Me Think of Home
Not About Us (Genesis)
Follow You Follow Me (Genesis)
The Carpet Crawlers (Genesis)
Congo (Genesis)
Inside (Stiltskin)
Mama (Genesis)
Zugabe: Solsbury Hill (Peter Gabriel)
Nun wartete alles gespannt auf YES featuring Jon Anderson, Trevor Rabin und Rick Wakeman. Oft wird der Name der Band auch mit ARW abgekürzt, denn sie sind ja neben der eigentlichen Formation YES unterwegs, die unter anderem Howe, Downes und White in der Band hat. Wer sich nun legitim als „Original“ bezeichnen darf, sei also dahin gestellt. Auf jeden Fall war es ein besonderes Ereignis, YES mit dem stimmgewaltigen Anderson zu sehen. Und da es das einzige Deutschlandkonzert 2017 war, sind unendlich viele Fans zur Loreley gekommen, was die Reihen bis nach oben komplett füllte.
Die Show dauerte weit über zwei Stunden und Klassiker reihte sich an Klassiker. Der Beginn mit „Cinema“ war noch etwas holprig, doch man konnte von Beginn an erkennen, dass Jon Anderson stimmlich in Topform war. Das war die Hauptsache! Rick Wakeman erschien im langen weiten Umhang – stilgerecht, wie man es von dem Keyboard-Heroen nicht anders erwartet. Die 70er und 80er Jahre wurden ausgiebig zelebriert. Oft mit schönen, mehrstimmig arrangierten Passagen. Hier zeigte sich die Klasse der ganzen Band ebenso wie an den Instrumenten. Vor allem Lee Pomeroy am Bass stach glänzend heraus. „Long Distance Runaround“ wurde dem seligen Chris Squire gewidmet und Lee legte im Anschluss mit „The Fish“ ein Bass-Solo zu Squires Ehren hin, dass es manchen die Tränen in die Augen trieb. Das waren echte Gänsehaut-Momente.
Eine Lanze will ich an dieser Stelle auch für Trevor Rabin brechen. Er war ja nur kurzzeitig in den 80ern und Anfang der 90er bei der Band, hat aber auf Alben wie „90125“ und „Union“ deutliche Spuren hinterlassen. So glänzte er bei „Lift Me Up“ und „Changes“ auch an den Vocals. Zum Abschluss des regulären Sets gab es „Owner Of A Lonely Heart“ in einer ausgedehnten Version, die es weit weg von allen Pophit-Ambitionen führte. Und die Zugabe „Roundabout“ machte den Gig zu einer runden Sache. Hier ging nach Mitternacht jeder mit strahlenden Augen nach Hause (oder ins Zelt).
Setlist YES featuring ARW, 15.7.2017, Loreley – Night of the Prog
Cinema
Perpetual Change
Hold On
I’ve Seen All Good People
Drum Solo
Lift Me Up
And You and I
Rhythm of Love
Heart of the Sunrise
Changes
Long Distance Runaround
The Fish
Awaken
Owner of a Lonely Heart
Zugabe: Roundabout
Am Sonntag war ich dann ab 16 Uhr pünktlich zu Gong am Start. Die 1968 gegründete Band besteht auch nach dem Tod der Band-Gründer Daevid Allen und Gilli Smyth fort. Es gibt sogar ein aktuelles Album, das den Flair alter Tage atmet. Live kam die Band auf jeden Fall ganz schön schräg und jazzig rüber. Nicht so ganz mein Fall, doch sie wurden von Teilen des Publikums durchaus abgefeiert. Gong sind eine spacige Prog-Legende und konnten diesem Status auf der Loreley gut gerecht werden. Durchaus ein Fall für Nostalgiker.
Die wurden dann ebenso von Chris Thompson bedient, seines Zeichens Ex-Leadsänger von Manfred Mann’s Earth Band, der er von 1975 bis Ende der 90er Jahre als Sänger vorstand. Auch danach gab es noch eine Zusammenarbeit mit Manfred Mann. Das Tischtuch scheint also nicht zerschnitten, wie man an den schönen Anekdoten erkennen konnte, die Chris aus seinen Bandzeiten erzählte. Das Programm auf der Loreley sollte sich den progressiven Zeiten der Earth Band in den 70er Jahren widmen. Dem wurde Chris voll und ganz gerecht und erfüllte den Auftrag mit Bravour. Schon der instrumentale Start, den er selbst an der Gitarre gestaltete, war ein Meisterstück.
Die Alben von 1973 bis 1976 standen im Fokus und das war ein musikalisches (und durchaus progressives) Fest. Titel wie „The Road To Babylon“, „Spirit In The Night“ und „Don’t Kill Carol“ bestimmten den Set. Bei „Martha’s Madman“ konnte ich erstmals den Refrain mitsingen und wirklich familiär wurde es schließlich im letzten Drittel des Konzerts. „Blinded By The Light“ – wundervoll im Duett mit Elisabeth Moberg – und „Davy’s On The Road Again“ hoben die letzten Zuschauer aus den Sitzen. Im Zugabenteil gab es ein herzerwärmendes „For You“, das Chris zu Beginn ganz allein vortrug, gefolgt vom Gassenhauer „Quinn, The Eskimo“.
Chris Thompson war gut aufgelegt und erzählte zu „Father of Day, Father of Night“ von seinem ersten Gig mit der Earth Band, als beim Reading Festival nur eine einzige kleine Wolke am Himmel war und genau zu diesem Song ihre Schleusen über dem Konzertgelände öffnete. Oder davon, wie Manfred Mann bei einem Test-Gig im Jahr 1975 zwanzig Leute bezahlte, die nach vorne stürmten und „Where is Mick Rogers?“ skandierten, dessen Nachfolge Thompson angetreten hatte. So öffnete Chris gut gelaunt das Feld für den Headliner Marillion. Und ich will auch nicht die restliche Band unerwähnt lassen, die sich um den Norweger Mads Eriksen gruppierte und die anspruchsvolle Songliste gekonnt über die Bühne brachte. Chapeau!
Marillion machten den Abschluss. Das war so nicht geplant, denn eigentlich waren Kansas Headliner für den Sonntag. Diese hatten ihre Europa-Tour aber kurzfristig abgesagt. Eigentlich aus fadenscheinigen Gründen: Anscheinend gibt es in den USA eine Reisewarnung für Europa wegen Terrorgefahr. Na dann. So durften wir uns auf Marillion freuen, die fast genau dreißig Jahre zuvor (nämlich am 17. Juli 1987) ihr legendäres Konzert mit Fish hier hatten, das zu den Live-Klassikern der Band zählt. Klar wäre das die Chance gewesen, ein paar Titel vom „Clutching At Straws“ Album zu spielen, um nostalgische Gefühle zu wecken. Doch weit gefehlt. So etwas machen Marillion höchstens mal auf ihren umjubelten Weekends. Sie sind die einzige Band, die in den 80ern einen Megaerfolg hatte und heute noch existiert, es dabei aber nicht nötig hat, Titel aus dieser Ära zu spielen.
Stattdessen gab es das Prog-Highlight des vergangenen Jahres, nämlich das aktuelle Album „Fuck Everyone and Run (F E A R)“ fast komplett! Und es war ein fantastisches Konzert, das mit dem epischen „The Invisible Man“ begann und im Anschluss direkt in das aktuelle Werk führte. Im Hintergrund lief auf LCD Leinwand eine Videoshow, die den Songs genau angepasst war und die Atmosphäre unterstützte. 135 Minuten Musik, aber nur neun Songs. So läuft das bei den bestens aufgelegten Briten, die gerade ihre Deutschland-Tour starten.
„Living in FEAR“ widmete Steve Hogarth Deutschland und dem, was wir für die Verzweifelten der Welt getan haben. Als einige ungläubig schauten und das Publikum nicht direkt in Jubel ausbrach, betonte er nochmal, wie ernst er diese Aussage meinte. „England hat einen scheiß für diese Menschen getan“. Überhaupt war es ein sehr politisches Konzert der Band. Denn neben den hochaktuellen Titeln über die Jagd nach Gold und Reichtum gab es auch noch den Longtrack „Gaza“, der sich mit harten Klängen dem Geschehen im Gaza-Streifen widmet, ohne dabei Stellung für eine der beiden Seiten zu beziehen. Hogarth sieht in seinen Texten die Menschen im Mittelpunkt.
„Easter“ als Mitsingnummer hätte nicht unbedingt sein müssen. Um so mehr freute ich mich über „Man Of A Thousand Faces“ im stimmungsvollen Gewand und über Hogarths autobiographische Zugabe „This Strange Engine“. Hier waren alle mit ihm und das Konzert, das abgesehen von „Easter“ ausschließlich Bandtitel aus den letzten zwanzig Jahren bereit hielt, wurde mit Beifallsstürmen umjubelt. Schade, dass Kansas nicht da waren – aber Marillion waren ein mehr als würdiger Ersatz.
Setlist MARILLION, 16.7.2017, Loreley – Night of the Prog
The Invisible Man
El Dorado: I. Long-Shadowed Sun
El Dorado: II. The Gold
El Dorado: III. Demolished Lives
El Dorado: IV. F E A R
El Dorado: V. The Grandchildren of Apes
Living in F E A R
The Leavers: I. Wake Up in Music
The Leavers: II. The Remainers
The Leavers: III. Vapour Trails in the Sky
The Leavers: IV. The Jumble of Days
The Leavers: V. One Tonight
Easter
The New Kings: I. Fuck Everyone and Run
The New Kings: II. Russia’s Locked Doors
The New Kings: III. A Scary Sky
The New Kings: IV. Why Is Nothing Ever True?
Man of a Thousand Faces
Gaza
Zugabe: This Strange Engine
Es gilt mal wieder, Win Völklein ein Kompliment zu machen. Auch die zwölfte Auflage des NOTP Festivals war ein Fest! Das Line-Up war absolut stimmig, jeder konnte seine Heroen alter Tage wiederfinden oder Neues entdecken. So muss das sein. Auf dem Plateau der Loreley ändert sich einiges, doch für die dort stattfindenden Rockfestivals bleibt es eine Bank. Genügend Parkplätze und große Wiesen zum Campen. Die Freilichtbühne war mit ausreichend Verpflegungsständen, CD-Läden und Sanitäranlagen bestückt. So konnten sich Fans aller Altersgruppen gut versorgt fühlen. Der Termin für 2018 steht schon fest: NOTP startet dann vom 13. bis 15. Juli. Wer jetzt schon zuschlagen will, findet bis zu. 31.7. „Early Bird Tickets“ auf der Homepage des WIV Ticket Shop. Bands oder gar Headliner stehen noch nicht fest, doch das sollte kein Problem sein. Proggies werden ganz sicher gut bedient werden.