Kam bisher wirklich noch keiner auf die Idee, sein Album einfach „Schlager“ zu nennen? Falls nein, ist es auf jeden Fall eine geniale Promo-Masche. Und es hat eine subtile Note – werfen viele Puristen der jungen Künstlerin doch vor, dass das kein Schlager mehr sei, was sie da mache. Das sind Bemerkungen, die sich auch Helene Fischer oft hat anhören müssen. Vanessa Mai gibt auf ihren Konzerten gerne eine einfache Antwort, ganz lapidar – so wie ihr der Schnabel gewachsen ist: „Ist das noch Schlager? Ist das nicht scheißegal?“
Und mal ganz ehrlich: Natürlich ist das noch Schlagermusik, was sie da fabriziert. Spannend ist viel mehr, dass es keiner sein müsste. Viele der Songs würden auch als Deutschpop durchgehen, wenn die Stücke anders produziert wären. Das beweist Vanessa regelmäßig in ihren dancefloor-lastigen Shows und mit den akustischen Versionen mancher Titel, die sich plötzlich ganz anders anhören, wenn sie nur von Gitarre oder Piano begleitet werden und das elektronische Getue wegfällt.
Mich hat immer am meisten gestört, dass Vanessa Mai ihre Alben von Dieter Bohlen schreiben und produzieren ließ. Das sorgte dafür, dass sie im ganzen Einheitsbrei zwischen Beatrice Egli und Andrea Berg unterzugehen drohte. Zum Glück gab es aber noch die erfrischenden Songs aus Wolkenfrei-Zeiten und natürlich Vanessas Charisma bei der Live-Umsetzung, das ihr hohe Sympathiewerte einbrachte und die Fans mitriss.
Das neue Album „Schlager“ soll in vielerlei Hinsicht ein Neuanfang sein: Zunächst einmal hat sie sich von Dieter Bohlen freigeschwommen. Mit dem Produzenten Lukas Loules nahm sie einen Teil des neuen Albums in Los Angeles im Paramount Recording Studio auf. Loules ist übrigens kein Geringerer als Lukas Hilbert, der schon für Udo Lindenberg, Peter Maffay, Yvonne Catterfeld, Kesha und Chris Brown gearbeitet hat. Zu seinen Teenie-Zeiten war er gar als Hauden & Lukas mit Udo auf Tour – ich kann mich da an denkwürdige Konzerte im November 1989 erinnern.
Neben Lukas Loules, der inzwischen weltweit tätig ist und über eine extreme musikalische Bandbreite verfügt, waren noch zwei andere namhafte Produzenten im Spiel: Madezin und Felix Gauder, ein Produzent, der Vanessa besonders nahesteht und mit dem sie schon zu Wolkenfrei-Zeiten zusammen gearbeitet hat. In gewissem Sinne ist es damit die Rückkehr zum Start und es schließt sich ein menschlicher wie musikalischer Kreis.
Die Songs sind entsprechend vielseitig – ein Zugeständnis an den Schlager ist aber der fast durchgehend vorherrschende Elektrobeat. Es herrscht ein fröhlicher Sommer-Sound, der den Titel „Mein Sommer“ zum Sinnbild für den Jahrhundertsommer 2018 macht. Thematisch geht es um den One Night Stand, der die Longlife-Liebe wird („Ich wollt dich nur für eine Nacht“) und um das vertraute Zusammensein („Fallschirm“). Es gibt tanzbare Up-Tempo-Songs („Wiedersehen“) und kräftige Discobeats („Verdammter Engel“). Am stärksten fällt aber das Duett mit Rapper Olexesh auf. „Wir 2 immer 1“ führt Vanessas Musik in eine ganz neue Richtung und ist absolut hitverdächtig.
„Schlager“ ist keine Absage an das Genre, sondern eine Neuerfindung. Das macht Vanessa Mai mit der Bonus-CD klar. Hier hat sie ein Dutzend Songs aus ihrer Karriere, die auch die Band Wolkenfrei umfasst, neu eingespielt und modernisiert. Etwas gewöhnungsbedürftig, aber durchaus stimmig. Für 2019 hat Vanessa Mai die großen Arenen gebucht. Wenn das neue Album durchstartet, wird sie diese vermutlich locker füllen. Dann ist die Zeit der Hitradio-Schlagerpartys vorbei und sie kann ihr Ding durchziehen. Viel Glück dabei!