Es muss im Jahr 2008 gewesen sein, als sich „Deutsche Welle TV“ bei mir meldete. Wir hatten ein Konzert mit unserem Vokalensemble und sie wollten eine Reportage darüber bringen. Motto: Rheinland-Pfalz hat prozentual gesehen deutschlandweit die meisten Chorsänger. Die fünfminütige Doku beginnt mit Aufnahmen eines verlassenen Dorfes, meines Heimatorts. Man hatte sich die ältesten Gebäude und leere Straßen für ein Stimmungsbild ausgesucht. Die Idee dazu: „Was soll man hier schon Anderes machen als zu singen?“. Wir konnten darüber lachen, denn schließlich ist Singen unser liebstes Hobby – aber auch nicht mehr. Ich kann aber nachvollziehen, wie es Daniel Dickopf, Sänger und Hauptsongwriter bei den Wise Guys und den Alte Bekannten, gegangen sein muss, als der WDR eine Doku über die Auflösung der Wise Guys sendete. Die Aufnahmen waren einseitig zusammen geschnitten und zeigten eine zerstrittene Band. Alles Positive wurde vorsorglich weggelassen, um die Tendenz des Beitrags nicht zu stören.
Davon berichtet Dän, wie ihn Fans und Freunde liebevoll nennen, sehr offen in seinem Buch „Sommer ist, was in deinem Kopf passiert – Kneipengespräche über Gott und die Welt“. Dass Kneipengespräche einen äußerst philosophischen Charakter haben können, weiß wohl jeder, der mal morgens um drei Uhr als Letzter in der Lieblingskneipe saß – mit zugezogenen Vorhängen, weil die Sperrstunde schon längst vorbei war – und mit dem Wirt in politische Diskussionen verfiel. Grundlage dieses Buches sind ähnliche Situationen: Daniel Dickopf wollte keine herkömmliche Biographie schreiben. Er ließ sich aber von dem Theologen und Journalisten Bernd Becker zu einer Interview-Reihe überreden, die an 6-7 Abenden in verschiedenen Kölner Kneipen stattfand, von dem Co-Autor mitgeschnitten und inhaltlich zusammengefasst wurde. Das Ergebnis ist ein eindrucksvolles Taschenbuch mit Geschichten aus Däns Karriere und mit tiefen Einblicken in seine Ansichten und Gefühle.
Es geht um die unterschiedlichsten Themen, aber natürlich spielt Musik immer eine herausragende Rolle. Dän berichtet von seinen musikalischen Anfängen, den ersten Auftritten der Wise Guys, der Freundschaft und den späteren Streitigkeiten. Dabei ist er grundehrlich und versucht, nichts zu beschönigen. Trotz seiner oft subjektiven Sichtweise schwingt auch immer das Verständnis für die Kollegen mit. Dann geht es um vermeintlich Alltägliches im Musikerleben: Woher die Ideen für die Songs kommen, wieviel Autobiographisches in den Texten steckt, warum man auch nach Jahrzehnten auf der Bühne noch Lampenfieber hat, wie Nähe und Distanz zu den Fans entstehen und das tägliche Leben beeinflussen. Solche Hintergründe sind absolut faszinierend – vor allem wenn man nur die Künstlerseite eines Sängers kennt.
Was in Däns Kopf passiert, ist nicht immer nur „Sommer“. Er berichtet authentisch von seinen Depressionen. Das kann Mut machen, vor allem in solch schwierigen Zeiten wie den gegenwärtigen. Ohne Corona hätte es das Buch vielleicht (noch) nicht gegeben. Bei bis zu 150 Auftritten pro Jahr bleibt nur wenig Freizeit für solche Projekte. Wie aktuell das Buch ist, merkt man, wenn Dän von seinen Aktivitäten im Jahr 2020 spricht. Er hat viele seiner Lieblingslieder erstmals instrumental aufgenommen und es wird zwei neue Kinderlieder-CDs geben: eine jetzt im Herbst, eine in der ersten Jahreshälfte 2021. Die Pandemie-Krise macht kreativ. Und Kinderlieder sind dankbare Möglichkeiten, da Dän sie nicht live auf der Bühne ausprobieren muss.
Fans der A-cappella-Musik und Chorsänger kommen hier voll auf ihre Kosten. Es gibt wertvolle Tipps zu Straßenmusik und anderen Auftritten. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie es ist, vor 70.000 Menschen zu spielen. Dän lehnt sich auch weit aus dem Fenster und beschreibt die Eigenschaften der Menschen in verschiedenen Städten – natürlich nur was ihre Funktion als Publikum angeht.
Ganz zum Schluss gibt es auch klare politische Aussagen. Gegen die AFD, gegen Heimatstolz, für Weltoffenheit und starke Gefühle. Daneben ist Dän der Lokalkolorit aber wichtig. Das Verhältnis der echten Kölner zu ihrer Stadt ist nun einmal ein ganz besonderes. Dän erzählt vom Karneval, von den vielen Liedern über die Stadt, von Bands und Einzelpersonen. Entdeckt wurden die Wise Guys von den Höhnern, die ihre Karriere zu Beginn enorm unterstützen. Dann gibt es auch lustige Anekdoten, beispielsweise zum legendären Auftritt bei „Geld oder Liebe?“ der nicht den erwünschten Erfolg brachte, weil just an diesem Tag Lady Di verstarb und die Sondersendungen die entsprechende Show bis spät in die Nacht verschoben.
Behutsam gehen die Gespräche auf das schwierige Verhältnis zu den Ex-Kollegen ein. Journalist Bernd Becker leistet hier eine klasse Arbeit, wenn er Däns Aussagen und Gedanken zu verschiedenen Themen zusammenfasst und in eine gut lesbare Textform bringt. Man erhält tiefe Einblicke in die Gedankenwelt eines sympathischen Menschen, der aber auch seine Ecken und Kanten zeigt. Wie nach dem zehnten Bier in der Stammkneipe.