Wenn die Urlaubsstimmung so langsam abflaut, braucht es manchmal ruhige Momente, um das Entspannungsgefühl erneute hervorrufen zu können. Da kamen mir diese beiden Piano-Veröffentlichungen Anfang September gerade recht: Zwei Topkünstler, die uns an den schwarzen und weißen Tasten in eine andere Welt entführen. Da auch der Erscheinungstermin noch gleich ist, die Werke aber in sich sehr unterschiedlich, habe ich mich zu einer gemeinsamen Review entschieden.
Starten wir mit Craig Armstrong. Der Schotte, geboren 1959 in Glasgow, ist ein Komponist moderner Orchester- und Filmmusik, häufig mit elektronischen Elementen. Hier hingegen konzentriert er sich ganz auf das Ur-Instrument Piano. Gleich in doppelter Ausführung.
Armstrong hat schon mit der britischen Kultband Massive Attack zusammen gearbeitet und ein legendäres Streicharrangement für Madonnas Hit „Frozen“ abgeliefert. Für die Filmmusik des Biopics „Ray“ gab es einen Grammy und sein letztes Album „The Edge of The Sea“ (2020) – das sofort nach Veröffentlichung auf Platz 1 der UK Klassik Charts schoss – fasziniert mit außergewöhnlichen gaelischen Psalmgesängen.
Das neue Album hat der Künstler während der Corona-Isolation in seinem Studio in Glasgow eingespielt. Die 14 „Nocturnes“-Stücke haben eine unglaublich inspirierende, anregende und gleichzeitig beruhigende Wirkung. Der Komponist glänzt mit Natürlichkeit, mit intensiven Melodien und großer Emotionalität.
Lassen wir den Künstler selbst sprechen: „Durch den Lockdown kam ich nie dazu, tagsüber zu schreiben, so dass alle 14 Tracks zwischen 21 Uhr und der Morgendämmerung entstanden sind. Ich folgte diesem Ablauf, und nur meine Tochter war ab und zu wach, um mir etwas Gesellschaft zu leisten. Es herrschte eine wirklich seltsame Atmosphäre während dieses ersten Lockdowns: Wenn ich normalerweise gegen 23 Uhr spazieren gehe, ist es für gewöhnlich sehr ruhig – nun war die Zeit geprägt von vorbeifahrenden Krankenwagen. Zurück in meinem Studio im Keller arbeitete ich die ganze Nacht hindurch, schrieb vier Tracks, ließ sie für eine Weile ruhen, und wenn ich die Arbeit dann wieder aufnahm, wurde mir bewusst, dass es die Musik war, die es mir ermöglichte, alles andere für eine Weile gänzlich zu vergessen. In gewisser Weise habe ich das Album also eher für mich geschrieben – als eine Art Flucht – und je weiter der Prozess fortschritt, desto mehr dachte ich, dass es vielleicht auch anderen Menschen Trost spenden könnte.“
Die „Nocturnes“ sind ein Album der Nacht, aber nicht notwendigerweise für die Nacht, denn die vierzehn individuellen Kompositionen erforschen die musikalischen und emotionalen Paletten klassischer Formen und erweitern sie.Das Album widerlegt die Annahme, dass Nocturnes zwangsläufig melancholisch sein müssen. Während einige der Tracks eine wunderschöne Tristesse vermitteln, zeigen andere (wie Track 4), dass eine Nocturne auch erhebend sein und Hoffnung ausdrücken kann.
Armstrong hat die Stücke für zwei Klaviere geschrieben. Seine ursprüngliche Idee war, sie von anderen Künstlern aufführen zu lassen – eine Vorstellung, von der er immer noch hofft, dass sie sich erfüllt und das Werk live aufgeführt wird. Wirklich wichtig war ihm, dass einige der Stücke so komponiert sind, dass die Aufmerksamkeit weniger auf der Melodie, sondern vielmehr auf der Struktur und auf Emotionen liegt. Auf diesem Wege konnte er strukturelle Elemente ergründen, die weniger linear und abstrakter waren.
So hat er sie im Duett mit sich selbst eingespielt. Das Ergebnis ist inspirierend und berührend.
Víkingur Ólafsson hingegen ist kein Komponist, jedoch ist er für seine filigranen Interpretationen bekannter Werke in der ganzen Welt geachtet. Der junge Pianist aus Island entpuppte sich in der Vergangenheit schon mehrfach als hochintelligenter und innovativer Klangforscher, der das klassische Genre neu definiert.
„Mozart & Contemporaries“ liefert vorwiegend Musik aus den 1780er-Jahren und damit aus Wolfgang Amadeus Mozarts Zeit als freischaffender Künstler in Wien – seinem letzten Lebensjahrzehnt. Es zeigt das Bild eines gereiften Komponisten, eines ideenreichen, hart arbeitenden Mannes, der mit Beschwernissen rang. Die „Contemporaries“ sind Galuppi, Cimarosa, Carl Philipp Emanuel Bach und Joseph Haydn, die ebenfalls mit prägnanten Stücken vertreten sind.
„Ich finde gerade diese zehn Jahre in Mozarts Leben und Kunst faszinierend“, erklärt Ólafsson. „Mozart war ja nicht einfach nur Komponist, und es kommt mir so vor, als hätte er sich, wenn er für sich selbst als Klaviervirtuosen schrieb, mehr als sonst dem sublim Verspielten hingegeben, um das sich all seine Originalität und sein Erfindungsreichtum letztlich drehen. In dieser Phase brachte Mozart nicht nur die klassische Tradition zum Höhepunkt, sondern unterlief sie auch ganz subtil … Die Schatten sind dunkler, die Nuancierungen und Zweideutigkeiten tiefgründiger.“
“Mozart & Contemporaries” ist die schillernde Momentaufnahme einer Zeit, in der es gärte. Die Komponisten experimentierten viel, und Mozart schrieb bisweilen avantgardistische Werke. Víkingur Ólafsson hat sich nach Johann Sebastian Bach, Claude Debussy und Jean-Philippe Rameau einen weiteren großen Künstler vorgenommen und erweckt seine Zeit zum Leben. Essentiell!