Am 3. Januar 2020 wurde Marla Glen 60 Jahre alt. Seit neun Jahren hat sie kein Album mehr veröffentlicht. Daher ist der Titel „Unexpected“ doch ganz zielsicher und aussagekräftig gewählt.
Die Musikindustrie hat es in den letzten Jahrzehnten nicht ganz gut gemeint mit der Künstlerin aus Chicago. Anfang der 90er war sie ein weltweit gefeierter Star. Die Mischung aus Blues und Jazz, dazu ihre rauchige Stimme und eine durchaus maskuline Erscheinung – ebenso das enorme Charisma, das sie bis heute auf der Bühne versprüht. So werden Weltstars gemacht.
Sie habe nie die Kontrolle über ihre Musik gehabt und sei vielfach ausgenutzt worden, so erzählt sie gern in Interviews, und das Album „Humanology“ (2011) sei quasi über ihren Kopf hinweg erschienen. Wie so etwas überhaupt möglich ist? Kann sie selbst kaum erklären. Um so erstaunlicher und mutiger, dass Marla Glen nie aufgegeben hat. Ihre Konzerte sind nach wie vor eine Wucht. Sie ist beseelt von ihrer Musik. Die sonoren, manchmal etwas verrauchten, rauen Klänge mit einem Timbre irgendwo zwischen Tina Turner und Louis Armstrong erzeugen stets aufs Neue Gänsehaut. Auch auf dem neuen Album, über das sie endlich wieder selbst die Kontrolle hat.
Langsam und ausdrucksstark startet sie mit „No Reasons“. Es folgen der verspielte Countrysong „I Pity The Fool“ und schließlich ein verswingtes Uptempo-Stück „Steppin‘ Up“. Was für eine Energie schon in diesem Triple. Und das Pulver ist noch lange nicht verschossen. Quer durch die Musikwelt geht es mit dem rhythmischen, tränenrührigen „Who’s The Blame“, der chilligen Funk-Nummer „Prove All Your Lovin'“, der 70s-Disco-Nummer „Groove That Thang“ und dem ebenso verspielen „1 on 1“.
Fast eine ganze Stunde erstklassiger Musik – da ist einiges aufgelaufen über die Jahre. Stilistisch gibt es kaum Grenzen. Eine starke Rocknummer wie „What Time Is It Till Love“ ist genauso möglich wie der urtümliche Folk von „Smoking Joking Laughing“ und die schöne Ballade „Forever And Ever“, die wie ein Gospel erklingt.
Marla lässt sich nicht in Schubladen pressen – und vielleicht war es gerade das, was ihre Beziehung zur Muskikindustrie nie so einfach gemacht hat. Für „Unexpected“ hat sie alle künstlerischen Freiheiten – und das Album ist eine Wucht. Musikalisch, stimmlich, in jeder Beziehung. Ich kann es kaum erwarten, die Liveumsetzung zu erleben.