Muss man sich Sorgen machen, wenn es um die Nachfolge-Regelung der großen deutschen Liedermacher geht? Keineswegs, denn seit vielen Jahren ist Tim Linde hier ganz vorn dabei. Vor allem im hohen Norden hat der Hamburger sich ein treues Publikum erspielt und sich mit Songs wie “Wasser unterm Kiel” in den WDR und NDR Hörercharts eingenistet. Dabei helfen ihm seine charismatische Stimme, die hervorragenden Arrangements seiner Stücke und die intelligenten Texte.
Zwei Alben sind inzwischen erschienen (2014 und 2018) – wunderschöne Singer-/Songwriter-Musik alter Schule, die zugleich mit brandaktuellen Themen aufwartet und sich selbstsicher in die Gehörgänge einschleicht. Pünktlich zur Vorweihnachtszeit serviert Tim Linde die Filetstücke dieser Veröffentlichungen neu und geradezu festlich angerichtet. Dazu bringt er etwas ganz besonderes auf den Tisch: sein Orchesteralbum „Großes Besteck“. Darauf zu hören sind seine besten Lieder, neu arrangiert und eingespielt mit Orchesterinstrumenten.
„Ein solches Projekt unter Corona-Rahmenbedingungen zu verwirklichen ist eine Riesenaufgabe”, so Linde. Daher wurden alle Instrumente einzeln aufgenommen und später zu einem Gesamtorchester zusammengeführt. Das Ergebnis ist beeindruckend. Lindes gefühlvolle Texte und seine schönen Melodien werden durch die Arrangements zu einem spannenden und abwechslungsreichen Hörerlebnis. Mal zart und zerbrechlich, mal kraftvoll und treibend trägt die Musik den Zuhörer durch die elf Titel des Albums.
Zu meinen Highlights zählt “Brief an meine Eltern” als Dankeschön für eine glückliche Kindheit. Tim Linde scheint seine Heimat sehr zu lieben und bringt dieses Gefühl gut rüber. Dabei wird in “Großes Land” mit melancholischen Worten die Vielfalt in Deutschland gewürdigt und zugleich an die Verantwortung appelliert: “Wer stark ist muss auch gut sein, hat Pippi Langstrumpf schon erkannt. Darum sei ein starker Freund.” Solche Worte berühren sehr. Ebenso wie “Es braucht das ganze Dorf”, das sich der Kindheit in modernen Zeiten mit kritischen Worten widmet. Und natürlich gibt es auch die Hymne “Wasser unterm Kiel”, die den Songwriter vor sechs Jahren deutschlandweit bekannt gemacht hat.
Tim Linde hat diesmal die aussagekräftigen Stücke ausgewählt, die nicht witzig und satirisch überzogen sind sondern große Emotionen zeigen. Von Trauer und Melancholie („Der Zirkus zieht nicht weiter“) bis zu großer Freude und Dankbarkeit („Stefan und Dirk“) ist alles dabei. Ich mag auch Lindes lustige Stücke sehr, wenn er von Hühnern und Schweinen im Garten erzählt. Doch hier hätte das nicht gepasst. Die neue Sammlung ist einzigartig schön, inklusive des neuen Titels „Goldene Blätter“, der sich dem Erntedank- und Oktoberfest widmet.
Das Orchester fügt sich gut in die Arrangements ein. Man spürt, dass die Musiker hier nicht wuchtig im Hintergrund standen, sondern ihre Parts einzeln eingespielt haben. So klingt das Ergebnis sehr filigran und der Liedermacher-Charakter der Songs geht nicht verloren. Trotzdem gibt es genügend Stellen, an denen die orchestralen Momente in den Vordergrund treten und die Melodie verstärkt aufnehmen. „Großes Besteck“ ist eine perfekte Symbiose aus der Kunst eines großen Liedermachers und der Vielfalt orchestraler Gestaltungsmöglichkeiten. Wer bisher noch nie von Tim Linde gehört hat, sollte diese Lücke schleunigst schließen!