Eine der größten Überraschungen in der vierten Staffel von „Sing meinen Song“ (2017) war sicher Tilmann Otto alias Gentleman mit seiner hinreißenden Interpretation deutschsprachiger Titel von Silbermond und Mark Forster. Natürlich hat er den gewohnten Reggae-Rhythmus mitgenommen, aber die Neuinterpretation mit eigens hinzu komponierte Rap-Passagen war durchaus schlagkräftig. Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich Gentleman an einem eigenen Album in der Muttersprache versucht. Drei Jahre später ist es nun endlich soweit.
Als international gefeierter Star der Reggae-Szene steht Gentleman auf dem Zenit seiner Karriere und ist durch seine zahlreichen Jamaikaaufenthalte und Kollaborationen mit unterschiedlichsten jamaikanischen Musikern tief verwurzelt in der Kultur der Karibikinsel. Er hat in seiner über 20jährigen Bühnenkarriere schon in etlichen Ländern gespielt und manche Pionierarbeit für sein geliebtes Genre geleistet. Also durchaus mutig, ausgetretene Pfade zu verlassen. „Blaue Stunde“ ist um einiges poplastiger als seine bisherigen Releases. Daran ändern auch Feature-Gäste wie Sido und Ezhel nichts. Es war sicher eine Herausforderung, sich aus der Komfortzone zu bewegen.
Vor allem die Texte wissen zu gefallen und könnten auch zum Konsens bei Deutschpop-Fans führen, die mit den Reggae-Rhythmen nicht unbedingt viel anfangen. Es gibt ein fröhliches „Ahoi“ zum Start aber auch selbstironische Momente wie in „Schöner Tag“. Der Mix zwischen guter Laune und nachdenklichen Klängen („So nah“) funktioniert bestens. Da sind Songs, die ihn beim Pflanzen in seinem Garten oder beim Flussschippern auf einem dunkelblauen Boot verorten – so entspannt wie Peter Fox in seinem „Haus am See“. Und mit „Bei dir sein“ besingt Tilmann sehr berührend seine Gefühle als Vater.
Es tut gut, mal alles zu verstehen, was Gentleman uns erzählen will. Dennoch bleibt der altbekannte Flow erhalten und das Album ist in sich stimmig. Es ist stärker im Mainstream verortet, aber Gentleman vergisst seine Wurzeln in keinem Moment. Selbst ein Autotune-Song wie „Bruder“ wirkt nicht fehl am Platz. Ich muss sagen, dass ich Gentlemans Livekonzerte immer genial fand, aber von seinen Studioalbum oft gelangweilt war. Diesmal ist das nicht der Fall: Der Reggae-Künstler aus Osnabrück hat etwas zu erzählen und man hört ihm gerne zu. Eines der besten deutschsprachigen Alben des Jahres!