Alle drei Jahre kommt dieser liebe Gast in unser Haus und erzählt von den Dingen, die er in der Zwischenzeit erlebt hat oder die ihn berührt haben. Es ist ein wunderbares Geschenk, das Reinhard Mey seinen Fans da immer wieder macht. Er lässt uns an seinem Leben teilhaben – gewährt Blicke in sein Innerstes. Oftmals tut das weh, aber es kann auch sehr tröstlich sein.
Der Liedermacher aus Berlin – einer der letzten großen seiner Zunft – ist inzwischen 73 Jahre alt. Das merkt man weder ihm selbst und seinen Auftritten an, noch den Songs, die er schreibt. Es sind immer noch Geschichten aus dem Leben. Kleine Anekdoten, die uns auch selbst passiert sein könnten.
Wer sich mit dem Hintergrund beschäftigt, findet berührende Details aus dem Leben der großen Mey-Familie. Das Lied „So lange schon“ beschäftigt sich mit dem Tod des Sohnes Maximilian, der seit 2009 nach einer verschleppten Lungenentzündung im Wachkoma lag und schließlich 2014 verstarb. Es ist ein unendlich trauriges Stück, das mir Tränen in die Augen treibt und dennoch ein optimistisches Bild bietet. Das Bild einer Familie, die sich trifft, um gemeinsam des fehlenden Menschen zu gedenken. An Eindringlichkeit sind diese Worte kaum zu überbieten.
Die letzte CD „Dann mach’s gut“ brachte viele Geschichten mit sich, die sich mit der Familie beschäftigten. Das neue Werk handelt wieder stärker von den persönlichen Ansichten, die im Gesamtwerk des Liedermachers seit jeher eine große Rolle spielen. Er erzählt vom Lateinlehrer Dr. Brand, den die Schüler bösartig fertig gemacht haben, und von dem der Ich-Erzähler später erfuhr, dass er ein KZ-Überlebender war. Dann ist da die rührende Geschichte „Herr Fellmann, Bonsai und ich“ über den dementen Flüchtling aus einer Pflegeeinrichtung, den Reinhard Mey und sein Nachbar wieder zurück ins Heim bringen.
„Hörst du, wie die Gläser klingen“ erzählt gleich drei Episoden, die sich über den philosophischen Refrain verbinden. Weiterhin gibt es auch profane und trotzdem berichtenswerte Dinge, beispielsweise von der Streunerkatze „Lucky Laschinski“, die so unvermittelt im Leben des Protagonisten auftauchte, und von der lebenslustigen Zimmernachbarin im Ferienhaus („Wenn Hannah lacht“). Dann das Triple über Stationen des Lebens: „Wenningstedt Mitte“, „Heimweh nach Berlin“ und „Im Haus am Meer“. So viel will noch erzählt werden. Und wer weiß, wie viel Zeit noch bleibt?
Zwei Titel beschäftigen sich deutlich mit dem Herbst des Lebens. „So viele Sommer“ erzählt berührend schön von den guten gemeinsamen Zeiten eines Paares. Und „Zeit zu leben“ ist eine Hommage an seinen Freund, den Liedermacher Klaus Hoffmann. Ob man also Angst haben muss, dass die Flut an neuen Mey-Liedern plötzlich endet?
Wie um dem entgegen zu wirken trägt das Album eben nicht den Titel „So viele Sommer“, sondern es heißt ganz geheimnisvoll „Mr. Lee“. Im Titelsong wird dieser besungen – als schweigsamer Reisender, der auftaucht und wieder verschwindet. Die dazu gehörige Bleistiftzeichnung im Booklet könnte wieder auf den verstorbenen Sohn hin deuten. Doch die Erzählung bleibt geheimnisvoll und das ist auch gut so.
Jeder Song ist übrigens mit einem Foto aus Reinhard Meys Privatschatulle illustriert, das uns die Stücke nochmals näher bringt. Wir lernen seine Frau Hella kennen, die besungene Katze Lucky, die Haltestelle „Wenningstedt Mitte“ und Tochter Victoria-Luise. Wir sehen sogar die Familie in „So lange schon“ an ihrem Abschiedsort. Ein sehr intimer Einblick. Ich liebe es, wenn ein Album so als Gesamtkunstwerk funktioniert. Ganz zum Schluss gibt es das englische Wiegenlied „Lavender’s Blue“ im Duett mit der Tochter. Die 72 Minuten CD-Länge werden voll ausgeschöpft.
Es ist sein 27. Studio-Album, fast genau 50 Jahre nach „Ich wollte wie Orpheus singen“ entstanden. Die alte Begeisterung ist zu spüren, mehr denn je, sie hat sich von Album zu Album gesteigert. Alle Titel funktionieren als Gitarrenstücke, sind aber mit unterschiedlichsten Instrumenten versehen. Schon während ich die Studioversionen höre, freue ich mich auf die Tour im Herbst 2017. Dann werden wir den Liedermacher wieder allein auf der Bühne erleben. Nur mit seiner Gitarre – angestrahlt von einem Scheinwerfer. Ich freue mich drauf und werde das fantastische Album bis dahin noch oft hören.