Wenn New Model Army in der Saarbrücker Garage spielen, ist das natürlich ein Pflichttermin für geneigte Punk- und Independent-Fans aller Generationen. So war die kultige Location auch in Windeseile ausverkauft und man konnte sich dicht gedrängt auf das Konzert freuen, das nach dem Support Yagow pünktlich um 20 Uhr startete.
Die Band um den charismatischen Justin Sullivan ging mit „Coming or Going“ vom aktuellen Album „Unbroken“ gleich in die Vollen. Es war klar, dass NMA hier nicht irgendwelche alten Hits abnudeln wollten. Die Band aus dem britischen Bradford ist immer noch politisch relevant und hat etwas zu sagen. Gleich zu Beginn gab es mit „First Summer After“, „Language“, „If I Am Still Me“ und „Do You Really Want To Go There“ noch eine ganze Reihe neuer Titel.
Das neue Werk liefert altbewährte Klänge und neue Energie. Es ist voller heftigen Gitarren und setzt ein besonderes Augenmerk auf das rhythmische Zusammenspiel zwischen Bass und Schlagzeug. New Model Army verschieben dabei die Grenzen ihres einzigartigen Sounds, bleiben sich selbst jedoch treu. Das Album ist eine abwechslungsreiche Sammlung von Liedern mit sozial-politischer Message bis hin zu tief persönlichen Einblicken.
Doch natürlich haben es auch genügend Fan-Favoriten und Mitsing-Klassiker auf die Setlist geschafft. Schließlich wissen Army, wie man mit dem musikalischen Erbe umgeht – gab es dort in den letzten Jahren sowohl eine sehr ungewöhnliche Varianten mit 1000 Stimmen, die im Chor mitsangen, und eine orchestrale Version der größten Hits. So durften natürlich auch in Saarbrücken „Stormclouds“, „225“ und „Green and Grey“ nicht fehlen.
Justin war nicht so sehr in Plauderlaune, wie man dies von seinen Solo-Konzerten kennt, doch er hatte trotzdem einige „Stories from Brexit Island“ auf Lager, wetterte gegen Nationalismus und Kapitalismus, rief zu Solidarität auf. Auch mit fast 68 Jahren (der Geburtstag ist in gut zwei Wochen) bleibt Sullivan ganz der Alte.
Im Endpurt gab es grandiose Evergreens wie „Purity“ und „No Rest“. Im Publikum war eine fantastische Stimmung zu bemerken, auch wenn die Anzahl der choreografierten Performances auf den Schulter der Kolleg*innen bei weitem nicht mehr mit früheren Konzerten zu vergleichen ist. „Wonderful Way To Go“ und „Get Me Out“ funktionierten aber immer noch als Hymnen voller Energie, die Band und Publikum zielsicher verbanden.
Nach fast zwei Stunden war das Saallicht schon an, doch die Band kehrte zum düsteren „Betcha“ ein letztes Mal zurück. Die Geschichtenerzähler mit politischer Message haben viel zu berichten – vor allem, wenn sie in Europa unterwegs sind. Nächste Gelegenheit zum Konzertbesuch gibt es übrigens am 19. Juli 2024 in Trier. Die Open-Air-Location am Brunnenhof direkt neben der Porta Nigra ist definitiv einen Besuch wert.
„Carnival“ erschien ursprünglich im Jahr 2005 als neuntes Album von New Model Army. Es war eine schwierige Zeit für die Band. Fünf Jahre waren seit „Eight“ vergangen und die Band befand sich immer noch im Umbruch. 2004 gab es zwei Todesfälle im Umfeld: Mit Darryl Kempster starb im Juni ein langjähriger Wegbegleiter und Mitarbeiter des Merchandising-Standes. Er wurde bei einem Überfall vor einem Hotel in Südafrika im Alter von 37 Jahren erschossen. Am 4. November starb Schlagzeuger Robert Heaton mit 43 Jahren aufgrund eines Tumors.
Schon in der ersten Ausgabe setzten die Songwriter Justin Sullivan und Michael Dean ein Konzept in den Mittelpunkt, das „Leben und Sterben“ thematisierte. Das Album begann mit „Water“, auf dem der vorgeburtliche Ultraschall von Michaels erstem Sohn als Sound verwendet wird und es endete mit „Fireworks Night“, das die Band dem während der Aufnahmen verstorbenen Heaton widmete.
„‘Carnival’ war ganz anders“, sagt Sullivan im Nachhinein dazu. „Ambitioniert entworfen als eine Art eklektisch-wirbelndes Soundkarussell war es der Beginn meiner kreativen Partnerschaft mit Michael – mit einem endlosen Strom von neuen Ideen von Nelson, Dean und Dave. Vielleicht wählten wir damals mit Chris Tsangarides den falschen Produzenten. Er war nicht dafür gemacht unser Chaos zu steuern und in Bahnen zu lenken. Und die Dinge wurden durch das häufige Fehlen von Nelson und Dave, der aus familiären Gründen dabei war die Band zu verlassen, nur noch komplizierter. Wir hatten immer das Gefühl, dass ‘Carnival’ das Album war, bei dem die Aufnahmesessions, das Mixing und das Mastering den Songs nie gerecht geworden sind.”
Dem will man jetzt zum 40jährigen Bandjubiläum entgegen wirken. Konzerte waren ohnehin Fehlanzeige – warum also nicht am Backkatalog arbeiten? Die Band übergab die Originalaufnahmen an Lee Smith, den Co-Produzenten und Mixer ihrer neusten Werke. Neben dem neuen Mix wurde das Album um vier Songs und damit 14 Minuten Lauflänge erweitert. Zudem wurde die Reihenfolge der Tracks grundsätzlich umorganisiert, ohne aber den umfassenden Rahmen des Openers „Water“ und des Abschlusses „Fireworks Night“ zu ändern.
Die neuen Stücke fügen sich energisch und intensiv in das Tracklisting ein. Keine Fremdkörper, sondern bedeutsamer Bestandteil des neuen Werks: „Rumour and Rapture 1650“ wurde von Sullivan für die Theatertour von “Freeborn John”, dem Konzeptalbum von Rev Hammer, geschrieben und erzählt die Geschichte eines desillusionierten Soldaten der Parlamentsarmee. „Caslen (Christmas)“ war zunächst instrumental, von Nelson auf der Akustikgitarre eingespielt, und wurde nun mit einem Text von Sullivan erweitert. „One Bullet“ und „Stoned, Fired and Full of Grace“ sind Fans der Band als Live-Akustik-Songs bekannt, doch sie kommen auf „Carnival“ als bisher unveröffentlichte Versionen, eingespielt von der gesamten Band, zum Einsatz. Vor allem „One Bullet“ hat sich schnell zu meinem Favoriten entwickelt.
Als neues Konzeptalbum klingt „Carnival“ jetzt deutlich schärfer und rhythmisch kraftvoller als bisher. Starke Gitarren und ein energisches Schlagzeug beherrschen die Platte. Der Charakter von Protesten gegen die Widrigkeiten unserer Zeit (seien es die Not in Afrika, die Flüchtlingskrise oder die Amtsmüdigkeit der Polizei) treten stärker hervor. Und dazwischen verstecken sich Perlen wie das düster-atmosphärische „Too Close to the Sun“ und das orchestral-hymnische Keyboard von „Another Imperial Day“.
In dieser neuen Form macht „Carnival“ einen großen Sprung nach oben und entwickelt sich langsam aber sicher zu meinem NMA-Favoriten im neuen Jahrtausend. Das Artwork wurde modernisiert und die Aufmachung als Digipack ist absolut gelungen. Aus alt mach neu. Perfektes Upcycling!
New Model Army sind ein Phänomen! Im Oktober des nächsten Jahres feiert das Quintett um Frontmann Justin Sullivan seinen 40. Geburtstag und nach wie vor gehören die Briten zur absoluten Speerspitze des Independent-Rock. Das zeigt sich auch am heutigen Abend bei ihrem traditionellen Weihnachtskonzert in Köln. Es ist die 20. Auflage und zum ersten Mal überhaupt ist das Palladium ausverkauft. Man darf dies gerne als eindrucksvolles Zeichen dafür werten, dass die aufrichtige Überzeugung der Band mit der Kraft der Musik zu inspirieren und Veränderungen auf persönlicher und politischer Ebene zu initiieren, in der heutigen Zeit vermutlich mehr Gewicht hat als jemals zuvor. Zudem liefern New Model Army nach wie vor erstklassige Alben ab, wie das zuletzt veröffentlichte Werk „From Here“ (hier findet ihr unser Review).
Die aktuelle Tour stand zuletzt allerdings unter keinem guten Stern. Aufgrund einer Erkrankung von Schlagzeuger Michael Dean mussten einige Konzerte verschoben werden. In Köln ist davon nichts zu spüren. Die Fans werden aber zunächst noch auf eine längere Geduldsprobe gestellt bis New Model Army endlich auf der Bühne stehen. Denn vorher bewerben sich Les Négresses Vertes und die Stiff Little Fingers noch erfolgreich darum die 4.000 Kölner in Stimmung zu bringen. Viele von ihnen haben noch einmal ihre alten New Model Army-T-Shirts und -Hoodies aus dem Kleiderschrank gekramt und es hätte mich nicht verwundert wenn vor dem Palladium der DeLorean von Doc Brown geparkt hätte. Angesichts zahlreicher Irokesenschnitte, Lederjacken, langer Bärte, Halsketten und Nietenhosen fühlt man sich fast ins Jahr 1985 zurückversetzt. Wie bei New Model Army üblich spenden wir an der Gästeliste gerne 5 Euro pro Person für den guten Zweck, diesmal für die Kiezkicker St. Pauli.
So vergeht die Zeit zwischen Leute gucken, Bier holen und Vorgruppe zuhören und es ist bereits 22 Uhr, als ein tiefes Donnergrollen das Palladium erzittern lässt und New Model Army, angeführt von Justin Sullivan, mit dem Uraltklassiker „No Rest“ in ihr gut zweistündiges Set starten. Der Sound ist vom ersten Ton an perfekt ausgesteuert und ein ums andere Mal legt sich ein wohliger vorweihnachtlicher Klangteppich über die Fans. Deren Stimmung ist weniger besinnlich als vielmehr ausgelassen, was zum einen am Alkohol liegen mag und zum anderen mit größerer Wahrscheinlichkeit am druckvollen Start der Band. Natürlich lässt es sich Justin Sullivan nicht nehmen den nun wohl endgültig anstehenden Brexit zu verteufeln („Betet für uns während ihr uns hinterher winkt“) und eine wütende Version von „51st State“ in seine aus den Fugen geratene Welt zu rotzen. Später warnt er noch vor „Politikern mit komischen blonden Haaren“ und meint damit Donald Trump und Boris Johnson.
Der Großteil der Songs am heutigen Abend ist auf „From Here“ zu finden und das Titelstück nimmt etwa in der Mitte des Konzertes erstmals etwas Dampf vom brodelnden Kessel, hätte aber vielleicht besser als Opener gepasst. Zu „Believe It“ taucht der erste und einzige Dolphin auf, womit diejenigen Fans gemeint sind, die auf den Schultern ihrer bemitleidenswerten Begleitung stehen und mit ausgebreiteten Armen im Takt der Musik „mitschwimmen“. In diesem Fall ist es zum Glück eine zierliche Frau. Danach arbeitet sich die Setliste erfreulicherweise auch weiter am New Model Army-Backkatalog ab und hat im Zugabenblock mit „Betcha“ aus ihrem allerersten Studioalbum „Vengeance“ von 1984 sogar noch ein ganz besonderes Highlight zu bieten. Zwischendurch sorgt Justin Sullivan mit einer akustischen Version von „Over The Wire“ für den ultimativen Gänsehautmoment und als die Band mit meinem persönlichen Favoriten „Fate“ und einer Vollgasversion von „Here Comes The War“ das reguläre Set beschließt ist die Stimmung im Palladium bereits lange auf dem Siedepunkt angekommen. Es wird auch während der folgenden kurzen Pause weiter getanzt und gesungen.
Die Band ist sich des besonderen Anlasses offensichtlich ebenfalls bewusst und beschließt einfach nicht aufzuhören. So kommen New Model Army insgesamt noch dreimal für Zugaben zurück auf die Bühne und lassen die Nacht mit „Ballad Of Bodmin Pill“, „125 Mph“, „Green And Grey“, dem bereits erwähnten „Betcha“ und „I Love The World“ als hoffnungsvoller Abschiedsbotschaft weitaus länger werden als gewöhnlich auf dieser Tour. Zum Dank ernten sie frenetischen Jubel und das stille Versprechen im nächsten Jahr zur 21. Ausgabe des New Model Army-Weihnachtskonzertes wiederzukommen. Dann dürfte auch eine große Geburtstagssause angesagt sein. Es ist bereits nach Mitternacht, als wir wieder hinaus in die kalte Kölner Luft treten und sich auf dem Weg zur Bahn plötzlich Menschen mit Nikolausmützen und Pappnasen unter uns mischen. Im benachbarten E-Werk ist gerade die „Stunksitzung“ zu Ende gegangen. Irgendwie passt das zu diesem bunten, fröhlichen und etwas anarchistischen Abend. Merry Christmas everybody!
Auch nach fast vierzig Jahren ist jedes Konzert der britischen Independent-Rocker New Model Army ein Event – für Fans und Follower genauso wie für die umtriebigen Bandmitglieder, in deren Mitte nach wie vor der charismatische Frontmann Justin Sullivan steht. Der aktuelle Teil der „From Here“ Tour stand zeitweise unter keinem guten Stern, da Gitarrist Marshall Gill aus familiären Gründen eine Tourpause einlegten musste. Doch das verbliebene Quartett kann dies gut wettmachen, was vor allem an den multi-instrumentalen Fähigkeiten von Keyboarder Dean White liegt. Man musste sich also auch beim Konzert in der Eisenbahnhalle Losheim am See keine Sorgen machen, ein reduziertes oder verzerrtes Set vorgesetzt zu bekommen.
Den Anfang im Saarland machte aber die Trierer Band vandermeer – benannt nach der stimmgewaltigen Frontfrau Harmke van der Meer. Im März hatte man das zweite Album „Panique Automatique“ veröffentlicht, das das Quartett nun mit soliden Klängen zwischen Independent-Rock und -Pop sowie einigen sphärischen Ausschweifungen vorstellte. 45 Minuten ließ man ihnen dafür Zeit – und sie nutzten diesen Slot ganz überzeugend, was bei einer Menge, die mit viel Spannung auf ihre persönlichen Helden wartet, nicht ganz einfach ist.
Um 21.20 Uhr betraten Justin & Co. unter Donnerschlägen die Bühne. Der Klassiker „Nor Rest“ bot einen überzeugenden Start. Überhaupt wurde die Setlist von vier Publikumslieblingen als Eckpfeiler markiert: Der Politsong schlechthin, „51st State“, sollte noch folgen. In der Mitte gab es eine gewohnt energische Version von „Here Comes The War“ und den Abschluss des Hauptsets bildete „Get Me Out“. Damit waren viele Fans der alten Tage schon zufrieden gestellt.
In der Hauptsache ging es aber um das neue Werk „From Here“ – und das hatte (nicht nur bei Musicheadquarter) hervorragende Kritiken eingeheimst. Viele waren sich einig, dass es das beste Army-Album des neuen Jahrtausends ist. „Endlich mal wieder ungeschliffen, rau, mit Ecken und Kanten, ein bißchen back to the roots und gleichzeitig ungemein frisch und vital“, so hat Kollege Kröll geschrieben (HIER die komplette Review). Ganze sechs Titel davon gab es im ersten Teil – und diese standen verdient im Mittelpunkt.
Natürlich vermittelte Justin Sullivan politische Botschaften. Grund genug gab es ja am zwischenzeitlich geplanten EU-Austrittsdatum der Briten („Talking about fucking Brexit“). Das „51st State“ direkt im Anschluss folgte, war das perfekte Statement. Trotzdem dauerte es etwas, bis der letzte Funke beim Publikum wirklich übersprang. Erst spät stieg der erste Follower zur persönlichen Performance auf die Schulter seines Kameraden. Und war im Verlauf des Abends auch der Einzige. Echte wallende Bewegung kam in die vordere Zuschauerhälfte auch erst bei „Get Me Out“ – aber das sah dann gleich aus wie in alten Zeiten.
Das Quartett bot bisweilen starke Tribals und atmosphärische Keyboardpassagen. Dann einen Fronter, der ganz allein mit Mittelpunkt der Bühne stand, entweder von einem Strahlenkranz blauer Lichter eingerahmt oder mit Akustikgitarre ein berührendes „Over The Wire“ anstimmend. Zum Ende hin gab es einige Stücke, die Justin passen als „Redemption Songs“ ankündigte.
Sullivan machte das anstehende Jubiläum zum Thema und vermerkte zur Freude der Anwesenden: In 2020 werden wir wohl mehr alte Songs spielen. Gut so! Aber auch mit den neueren Stücken war es ein gelungener Abend, der zunächst drei Zugaben mit sich brachte und beinahe nach gut 90 Minuten geendet hätte. Das Publikum ließ aber trotz Saallicht nicht locker und man kam zu einem verdienten Abschluss mit „125 Mph“. Die Eisenbahnhalle war ausverkauft – Grund genug, auch in nächstem Jahr zum Jubiläum wieder ins Saarland zu kommen. Wäre geil!
Setlist NEW MODEL ARMY, 31.10.2019, Eisenbahnhalle Losheim am See
No Rest
Never Arriving
The Weather
The Charge
Watch & Lean
51st State
Believe It
From Here
Where I Am
Wipe Out
Over The Wire
End Of Days
Here Comes The War
Stranger
Ballad Of Bodmin Pill
Fate
Get Me Out
Im Oktober 1980 betraten in ihrer Heimatstadt Bradford drei Musiker eine kleine Bühne, um unter dem Namen New Model Army ihr erstes Konzert zu spielen. Im Laufe der darauffolgenden fast vierzig Jahre kamen und gingen einige Bandmitglieder, der Musikstil entwickelte sich weiter, aber Frontmann und Songschreiber Justin Sullivan blieb das unverwüstliche Herzstück der Band. Und mit ihm blieb auch die aufrichtige Überzeugung durch die Kraft der Musik Menschen zu inspirieren und auf persönlicher und politischer Ebene, sowohl national als auch global, Veränderungen bewirken zu können. Dafür stehen mittlerweile fünfzehn veröffentlichte Studioalben, von denen einige wahre Meisterwerke sind.
Ein Freund hat mal zu mir gesagt: „Es gibt keine schlechten New Model Army Alben“ – er hat bis heute Recht behalten. Und als wolle sie ihn nochmal ausdrücklich bestätigen, liefert die Band mit Album Nummer 16 eines der besten ihrer gesamten Geschichte ab. „From Here“ wurde zu Beginn des Jahres auf der kleinen norwegischen Insel Giske aufgenommen. Die zwölf Songs reflektieren die einzigartige Isolation der Umgebung und bergen dennoch tiefgründige Nachrichten an eine Welt, für die wir alle verantwortlich sind und an eine Zeit, in der kleingeistige Moralapostel glauben eine 16-jährige Klimaaktivistin an den Pranger stellen zu dürfen, nur weil diese mehr Gehirnschmalz zwischen den Ohren hat als sie alle zusammen.
So beginnt „From Here“ passenderweise mit dem beschwörenden „Passing Through“. Über Justin Sullivan’s Gesang erheben sich im Hintergrund langsam die Instrumente, um einen sechsminütigen beeindruckenden Spannungsbogen zu schlagen, der etwa in der Mitte von einer einsamen Akustikgitarre unterbrochen wird, die sich mit einem galoppierenden Schlagzeug und einer fauchenden E-Gitarre duelliert. Ein ganz starker Auftakt! Es folgt das atemlose „Never Arriving“, gleichzeitig die zweite Singleauskopplung. New Model Army at its best gab es schon bei der ersten Single „End Of Days“ zu bewundern: Treibend und kraftvoll, fast schon wütend, aber mindestens eindringlich. Und „From Here“ bleibt durchgängig intensiv.
Nach einem ruhigen Zwischenstopp mit „Conversation“ wird es in „Great Disguise“ wieder beschwörend, diesmal allerdings mit einem erlösenden Refrain. „Hard Way“ besticht durch seine drohende Grundstimmung, die an einen Marsch erinnert. In die gleiche Kerbe haut „Maps“, wohingegen „Watch And Learn“ einem Gewittersturm gleicht, der in einem herzhaften Lachen endet. Super! Dazwischen liegen mit „The Weather“, „Where I Am“ und „Setting Sun“ drei solide Rocknummern. Solide bedeutet bei New Model Army aber wohlgemerkt mehr als viele andere Genrekollegen über die gesamte Länge eines Albums zu bieten haben. Zum guten Schluß lässt die Band mit dem Titelsong das längste Stück auf „From Here“ vom Stapel. Eines, das sich über acht Minuten langsam aufbaut. Ein Klavierintro, ein stampfender Rhythmus, die unverwechselbare Stimme von Justin Sullivan, eine akzentuierte Gitarre und am Ende… vierzig Sekunden Stille.
Ein Stück, das all das in sich vereint, was dieses Album ausmacht: Endlich mal wieder ungeschliffen, rau, mit Ecken und Kanten, ein bißchen back to the roots und gleichzeitig ungemein frisch und vital. Mit „From Here“ beweisen New Model Army, dass sie auch vier Jahrzehnte nach ihrer Gründung die ungebrochene Speerspitze einer Bewegung darstellen, die ihre Finger in die Wunden des Weltgeschehens legt und es dabei schafft sich musikalisch immer wieder neu zu erfinden. Chapeau!
Ab Oktober kann man sich davon auch wieder live überzeugen. Die Konzerte in Dortmund und Hamburg sind bereits ausverkauft. Für alle anderen Termine heißt es also schnell sein, denn die Veröffentlichung von „From Here“ wird der Ticketnachfrage sicherlich nochmal einen kräftigen Aufschub geben.
Gerade fand das diesjährige Weihnachtskonzert von New Model Army im Kölner Palladium statt. Und ebenda konnte man eine ganz besondere live-CD/DVD der alten Haudegen aus dem britischen Bradford erwerben. „Night of a thousand Voices“ heißt das gute Stück. Und es fängt ein ganz besonderes Konzertereignis ein: Vielen Konzertbesuchern gefallen diese Momente, wenn die Band recht leise spielt, der Sänger nur noch Stichworte gibt und das Publikum alle Lyrics durch die Halle schmettert. Genau diesen Moment haben New Model Army mit Justin Sullivan an der Spitze zu einer kompletten Konzertlänge, ja zu einem ganzen Fan-Wochenende ausgedehnt.
Wir dürfen uns das so vorstellen: Austragungsort im April 2018 war „The Round Chapel“ in London. Die Band stand mittig, rundherum eine große Menge von Fans aus aller Welt, ausgestattet mit einem umfangreichen Lyricbook zum Mitsingen. Das wäre natürlich nicht nötig gewesen – die Fans sind textsicher-, ist aber sicher für alle Anwesenden eine nette Erinnerung. Justin Sullivan am Mikro konnte sich getrost zurücklehnen und bis auf einige Ansagen und bisweilen unterstützende Gesangseinlagen das Feld dem neu gegründeten Chor überlassen, der hier ungeprobt unter der Regie der Band stand.
49 verschiedene Songs wurden an dem Wochenende gesungen, 28 haben es auf die live-CD geschafft, ein Dutzend zusätzlich auf die Bonus-DVD. Die Band ist in freudiger Spiellaune und Justin kann das Event sicht- und hörbar genießen. Natürlich ist der Chor stimmlich nicht perfekt: Männer neigen in der Masse ohnehin zum Grölen. Doch Klassiker wie „Green and Grey“, „51st State“, „Purity“ und „Vagabonds“ machen auch auf diese Weise großen Spaß.
Justin Sullivan sagt: „Das gemeinsame Singen ist die älteste und grundlegendste Form der menschlichen Kunst, vielleicht die gemeinschaftlichste Verbindung von allen, und geht bis zum Anfang unserer Geschichte zurück. Als wir die Idee für diese Konzerte hatten, schien es so offensichtlich, dass wir erstaunt waren, dass nach unserem besten Wissen noch nie eine Band dies getan hat, oder zumindest nicht auf diese Weise, die tausend Stimmen voll unterstützt. Natürlich wussten wir nicht wirklich, was passieren würde oder wie wir es am besten präsentieren sollten. Wir sind den vielen Menschen, die an dem Projekt gearbeitet haben, aber vor allem allen, die aus der ganzen Welt kamen, dankbar, dass sie aus vollem Herzen gesungen und etwas ganz Besonderes geteilt haben. Ob wir es jemals wieder tun, bleibt eine offen. Vorerst hoffen wir, dass diese Aufnahmen ein wahres Gefühl dafür vermitteln, was in diesen besonderen Nächten passiert ist.“
Der Weg von New Model Army war kein einfacher in den letzten Jahren. Es gab eine Neuaufstellung innerhalb der Band, das Studio brannte ab, der Rest fiel einem Diebstahl zum Opfer – und trotzdem gab es mittendrin die Alben „Between Dog And Wolf“ und den Companion „Between Wine And Blood“ als Zeichen eines konsequenten Neubeginns. Auch auf der Tour konnte man erkennen: New Model Army waren wieder da. Mit einer energisch auftretenden Band (vor allem Michael Dean am Schlagzeug trug hier neue Akzente bei) und einem Justin Sullivan voller Pathos, der nichts an Anziehungskraft verloren hat.
Jetzt steht also „Winter“ vor der Tür. Sullivan findet deutliche Worte zum Entstehungsprozess: „‚Between Dog And Wolf‘ hat uns sehr viele kreative Türen geöffnet, es war spannend, da hindurch zu gehen. Die Ergebnisse waren nicht unbedingt geplant – wie üblich haben wir uns eher vorwärts getastet -, aber ich glaube, dass ‚Winter‘ eine wirklich starke Identität bekommen hat. Es ist in hohem Maß der Sound von Menschen in schwierigen Umständen – das ist etwas, was Viele von uns in Zeiten wie diesen nachvollziehen können, auf sehr vielen verschiedenen Ebenen. ‚Winter‘ ist vielmehr ein Band-Album geworden als ‚Between Dog And Wolf‘ und wir haben es ganz bewusst auch aggressiver und ein bisschen weniger glatt gemischt.“
Das dreizehnte Album sieht die Band immer noch als politische Mahner, als Kommentatoren der sozialen Zustände. So werden Sullivans Texte einmal mehr zu einer Momentaufnahme der Gegenwart, mit anklagenden Gedanken zur ungerechten Verteilung von Ressourcen, mit Wutreden gegen die Kriegstreiberei. Hier kann sich der Songwriter unendlich auslassen und wird in seiner Gefolgschaft genügend Fans finden, die diese Inhalte teilen.
„The Beginning“ startet als episches Gitarrenstück, wie es Justin Sullivan in den 90ern vor allem auf seinen Solo-Platten zelebrierte. Nachdenklich und fordernd. Während dieser Opener noch etwas schleppend daher kommt, bietet schon „Burn The Castle“ einen eingängigen Refrain, der den Hörer mitreißt. Doch solche herausstechenden Einzeltitel bleiben eher die Ausnahme. „Winter“ funktioniert als zusammenhängendes Album. Zwar kein Konzeptalbum mit fortlaufender Story, aber eine thematische Zusammenstellung von Songs, welche die soziale Kälte beschreiben, die immer stärker um sich greift. Dazu passen der Albumtitel und das prägnante Artwork.
Das Album ist nicht glattgebügelt. Es klingt wie ein echtes Bandalbum und hat damit dem sauberen, klaren Sound von „Between Dog And Wolf“ etwas voraus. Höhepunkte sind für mich der mit aggressiven Drums versehene Track „Born Feral“ und das darauf folgende „Die Trying“. Es sind organische, aggressive Songs, die alles beinhalten, was New Model Army seit Jahrzehnten ausmacht: eine Mischung diverser Subkulturen wie Punk, Folkrock, Metal und Gothic, die zu einer musikalischen Einheit verschmelzen.
„Winter“ ist nicht das beste Album der Band. Vielleicht, weil man hier viel Worte um ein Thema machen muss, das man früher („Here Comes The War“, „Today Is A Good Day“) in eine Track zusammenfassen konnte. Doch es ist ein komplexes Album aus einem Guss und bildet einen neuen kreativen Höhepunkt. Und wenn die sanften Klänge von „After Something“ das nachdenkliche Ende einläuten, geht der Finger ganz automatisch zur Play-Taste und man startet mit „Beginning“ erneut.
Eigentlich sollten New Model Army schon zu Jahresbeginn in der Garage Saarbrücken auftreten, als man den zweiten Teil der „Between Dog And Wolf“ Tour zelebrierte. Dann kam aber eine Erkrankung von Schlagzeuger Michael Dean dazwischen und der Arzt riet ihm zu einer Pause. Was tun? Die Tour wurde verschoben und Justin Sullivan nutzte die Zeit, um mit seiner Band sechs neue Songs zu schreiben und selbige unter dem Titel „Between Wine And Blood“ zu veröffentlichen. Als Companion zu diesem Mini-Album gibt es eine zweite CD mit Livesongs vom ersten Teil der Tour. Und jetzt sind sie in voller Stärke zurück, um die Tour fortzusetzen.
New Model Army sind immer gut, um die Garage zu füllen. Als Support fanden sich die saarländischen Heavy Rocker Johnboy ein, deren Auftritt ich fast ausschließlich aus dem Vorraum verfolgte. Army schließlich betraten gegen 21.15 Uhr zu Akkordeon-Klängen vom Band die Bühne, die den größten Hit „Vagabonds“ intonierten. Leider nur als Intro. Es ging gleich los mit dem neuen Titel „Guessing“. Wer sich aber Sorgen gemacht hatte, zuerst eine ganze Latte neuer Songs zu hören, wurde gleich von „No Rest For The Wicked“ aufgeweckt. Die alten Hits sind es immer wert, in die Setlist eingestreut zu werden.
Was mir bei den letzten Army-Konzerten besonders auffällt, sind die dominanten Drums. Manchen mag das nicht gefallen, ich aber finde, dass es vor allem den aktuelleren Stücken eine schöne Dynamik verleiht und das Publikum mitreißt. „March In September“ war der erste Track aus „Between Dog And Wolf“, dem 2013er Album, das charttechnisch gesehen gar als Armys erfolgreichstes Album gelten darf. Man will es kaum glauben – nach über 30 Jahren Indierock.
Ein Konzert von New Model Army hat immer etwas von Zeitlosigkeit. Justin Sullivan steht in vertraut verlottertem Outfit mit Langhaarfrisur und Bartstoppeln auf der Bühne und lebt sein gewohnt gesellschaftskritisches Pathos voll aus. So wollen die Fans das – so bekommen sie es auch. „White Coats“ passt gut in dieses emotionale Schema. Und die leidenschaftliche Performance „Today Is A Good Day“, mit dem er die Bankenkrise bejubelt.
Auffällig war mal wieder die Gruppenperformance oberkörperfreier Fans, die auch selbstsicher den Platz vor der Bühnenmitte für sich beanspruchten. Justin und seine Follower – das ist schon ein ganz besonderes Verhältnis. Auf der Bühne war jedenfalls Vielfalt Trumpf. Es gab das erzählende „Knievel“, das energische „Stormclouds“ und eine mit Heavy-Gitarren vorgetragene Performance von „Angry Planet“. Viel neues Material, ziemlich wenig Klassiker. Die Menge ging trotzdem gut mit.
„Get Me Out“ schließlich lud zur wilden Party in der Garage ein, die Justin ob ihres Zuschnitts im Deckenbereich als „Circus Tent“ bezeichnete. Es folgten schließlich Publikumslieblinge wie „Wonderful Way To Go“ und „Green And Grey“ im Zugabenblock. Nach gut 90 Minuten endete mal wieder ein gelungenes Konzert im schönsten Club des Saarlands. Sicher habe ich schon bessere Army-Setlists gesehen, doch die neuen Alben haben es durchaus verdient, ausgiebig vorgestellt zu werden.
Setlist Garage Saarbrücken – 08/10/2014
Guessing
No Rest
March in September
Devil’s Bargain
States Radio
White Coats
No Mirror, No Shadow
Today Is a Good Day
Knievel
Summer Moors
Stormclouds
Angry Planet
Between Dog and Wolf
Purity
Family
Get Me Out
—
Headlights
Christian Militia
Wonderful Way to Go
—
Green And Grey
Wer sich etwas besser mit den speziellen Kölner Gepflogenheiten auskennt, der weiß, dass in der Domstadt Traditionen oft schneller geboren werden als anderswo. Findet etwas zweimal hintereinander statt, spricht der Rheinländer bereits von einer Tradition und zu einer solchen ist inzwischen auch das New Model Army-Weihnachtskonzert geworden. In diesem Jahr gastiert die Band bereits zum vierzehnten Mal kurz vor Heiligabend in Köln. Am Nachmittag des Konzertes machen wir uns auf ins Palladium, um Frontmann Justin Sullivan zu treffen. Im Backstagebereich herrscht leichte Hektik, weil man etwas dem Zeitplan des Tages hinterherhinkt, aber schließlich finden wir doch ein ruhiges Plätzchen im Bandraum. Marshall Gill klimpert auf seiner Gitarre herum, während Dean White und Michael Dean angestrengt im Internet surfen. Justin Sullivan macht es sich auf dem Sofa bequem, nimmt einen tiefen Zug aus seiner E-Zigarette und beantwortet entspannt die Fragen unseres Chefredakteurs Thomas Kröll.
Ihr seid jetzt seit Ende September auf Tour. Wie sieht so ein typischer Tourtag bei euch aus?
Justin Sullivan: Das kommt darauf an in welchem Land wir gerade sind. In Deutschland sieht das ungefähr so aus wie hier. Wir sitzen zusammen und reden über alles Mögliche. In der Zeit erledigt die Crew ihre Arbeit. Wenn sie fertig ist machen wir unseren Soundcheck und danach schlafen wir vielleicht noch ein wenig. Dann spielen wir unser Konzert und nach dem Konzert gehen einige von uns noch in die Stadt, um etwas zu trinken und der Rest ins Bett. Am nächsten Tag besteigen wir unseren Bus und fahren zum nächsten Konzert. Wir reden viel miteinander. Andere Bands schauen sich stattdessen Filme an. Das machen wir aber kaum, weil es immer so viele Dinge zu erzählen gibt. Ich glaube der Grund dafür ist, dass jeder in der Band und in der Crew einen anderen Background und eine andere Lebensgeschichte hat. Die Gesprächsthemen gehen so nie aus. Sogar nach drei Monaten auf Tour finden wir immer noch Dinge über die wir sprechen können.
Köln ist heute die vorletzte Station der Tour. Das Weihnachtskonzert hier ist für euch und die Fans inzwischen zu einer Art Tradition geworden. Immerhin seid ihr bereits zum vierzehnten Mal zu Gast. Habt ihr dabei auch eine spezielle Beziehung zur Stadt aufgebaut?
Justin Sullivan: Ich glaube, jeder liebt Köln. Die Leute kommen gerne hierher, weil es eine so liberale Stadt ist. Köln hat eine schöne Atmosphäre, es gibt viele Orte, wo man hingehen kann. Der Dom ist eines der sonderbarsten Wunder dieser Welt. Wie ein außerirdisches Raumschiff vom Planeten Goth, das in einer ansonsten modernen Stadt gelandet ist (lacht). Das ist sehr außergewöhnlich. Dann ist da noch der Rhein… es ist nicht schwer diese Stadt zu mögen.
Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben hast du gesagt, dass du gerne mal ein Fußballspiel im Kölner Stadion besuchen würdest. Hast du das mittlerweile geschafft?
Justin Sullivan: Gibt es nicht zwei? Das andere ist doch in Leverkusen. Aber das gehört nicht zu Köln, oder?
Nein, eindeutig nicht. Das ist der falsche Verein.
Justin Sullivan: Oh mein Gott, sorry (lacht). Wir sprechen vom FC Köln. Leverkusen ist woanders. Alles klar! Aber ich war immer noch nicht hier im Stadion. Eines Tages werde ich das aber sicher noch tun. Ein paar andere Stadien in Deutschland habe ich allerdings schon gesehen. Doch keine Sorge, Leverkusen war nicht dabei.
Heute abend habt ihr zwei Special Guests auf der Bühne. Zum ersten Tobias Unterberg am Cello und zum zweiten Ed Alleyne-Johnson, der in der Vergangenheit schon unzählige New Model Army-Konzerte auf seiner Violine begleitet hat.
Justin Sullivan: Das ist richtig. Als wir „Thunder And Consolation“ aufnahmen, komponierten wir „Vagabonds“ auf dem Keyboard, bis Robert (Heaton, der damalige Schlagzeuger, Anm.d.Red.) sagte: Wir brauchen einen richtigen Violine-Spieler. Damals waren wir in der Nähe von Oxford und fragten alle im Studio, ob sie einen solchen Violine-Spieler kennen, bis jemand sagte: Ja, ich kenne diesen Typen, der Ed heisst. Wir luden ihn also zu den Aufnahmen von „Vagabonds“ in unser Studio ein und als er auftauchte, war es von beiden Seiten wie Liebe auf den ersten Blick. Besonders das Intro zu „Vagabonds“ spielte er wirklich wundervoll. Da wir gerade auch jemanden brauchten, der Keyboard spielt, nahmen wir ihn mit auf Tour und er spielte vier Jahre lang Keyboard und Violine auf unseren Konzerten. Irgendwann wollte er sich dann wieder mehr um seine Solo-Aktivitäten kümmern. Und wir hatten das Gefühl, dass wir irgendwie festgefahren waren in der Folkrock-Welt. Gerade als diese Welle begann so richtig erfolgreich zu werden beschlossen wir etwas anderes zu machen. Das Ergebnis war „The Love Of Hopeless Causes“, das ein richtig hartes Rockalbum ist. Wir trennten uns in aller Freundschaft, hielten aber immer Kontakt. Vor kurzem haben wir in Manchester gespielt und Ed rief mich an und sagte: Ihr seid in Manchester? Kann ich vorbeikommen und mit euch spielen? Ich sagte: Natürlich kannst du das. Und beim Weihnachtskonzert in Köln hätten wir dich auch gerne dabei. Das einzige Problem heute ist, dass die Fluggesellschaft seine Violine verloren hat. Wir mussten uns eine leihen, aber ich hoffe er kommt damit klar.
Lass uns über euer neues Album „Between Dog And Wolf“ sprechen. Welche Intention steckt hinter dem Titel?
Justin Sullivan: Es ist eine Art Neuerfindung. Weisst du, wir haben eine Reihe Folkrockalben gemacht und wir brauchten etwas Neues. Nehmen wir zum Beispiel „Today Is A Good Day“. Du schreibst Songs, du arrangierst sie, du gehst ins Studio und nimmst sie zusammen auf. So haben wir das die letzten beiden Alben getan und diesmal wollten wir es anders machen. Michael (Dean, der aktuelle Schlagzeuger) und ich sprechen schon lange darüber den Drumsound vielschichtiger zu machen. Nelson (eigentlich Peter Nice, Bassist bis 2012) verließ zu dieser Zeit gerade die Band aus familiären Gründen und Ceri (Monger) stieß dazu. Einer der Gründe, warum wir uns für Ceri entschieden, war dass er nicht nur ein guter Bassist, sondern auch ein guter Schlagzeuger ist und für das, was wir vorhatten brauchten wir einen zweiten Schlagzeuger auf der Bühne. Früher haben wir zwar auch Alben mit guten Songs gemacht, aber sie waren meist nicht gut abgemischt. Das Ergebnis war nicht immer befriedigend. Darüber haben wir viel nachgedacht. Wir lieben Tom-Tom-Rhythmen, schwere Schlagzeugsounds, das Gefühl des tiefen Basses und dunkel gestimmte Gitarren. Auf „Between Dog And Wolf“ haben wir das Schlagzeug sehr viel mehr in den Vordergrund gestellt und auch ich habe mich beim Gesang zurückgenommen. Wir haben alleine eine Woche in London damit verbracht die Drumparts aufzunehmen. Auf Tape und nicht am Computer. Das macht einen grossen Unterschied in der Qualität aus. Danach nahmen wir den Rest in Angriff und in manchen Fällen schrieben wir die Songs erst nachdem wir das Schlagzeug dazu aufgenommen hatten. Am Ende war der Plan einen absoluten Topmann als Mixer zu verpflichten und wir fanden Joe Barresi, was eine sehr gute Entscheidung war. Du weisst ja was er tut. Er ist einer der Besten.
In den letzten vier Jahren sind viele Dinge passiert. Der Tod von Tommy Tee (langjähriger Manager von New Model Army), der Brand in eurem Studio oder der Diebstahl eures Equipments. Würdest du das Album deshalb auch als eine Art Neuanfang für euch bezeichnen?
Justin Sullivan: Ja, in der Tat. Das ist das Album, das wir schon immer machen wollten. Und diese ganzen Dinge, die passiert sind, haben es nur verzögert. Als wir im Sommer letzten Jahres schließlich damit begannen, ging alles sehr schnell. Wir waren schon im Februar komplett fertig.
Ihr habt eure Sache offensichtlich sehr gut gemacht. Mit „Between Dog And Wolf“ gelang euch der höchste Charteinstieg in England und Deutschland seit 1993.
Justin Sullivan: Ja, aber glaube niemals das, was du in den Charts siehst (lacht). Trotzdem ist es natürlich ein schöner Erfolg.
Ich habe mir die Setlisten der bisherigen Tour mal angeschaut und dabei ist mir aufgefallen, dass ihr regelmäßig acht oder neun Songs des neuen Albums live spielt, was eher ungewöhnlich für euch ist. Zeigt das auch den Stolz, den ihr für „Between Dog And Wolf“ empfindet?
Justin Sullivan: Oh ja, wir sind definitiv stolz darauf.
Du bist als ein sehr kritisch denkender Mensch bekannt, gerade wenn es um Politik geht. Die Texte auf „Between Dog And Wolf“ sind sehr viel weniger politisch als die Texte auf, sagen wir mal, „Today Is A Good Day“. Glaubst du inzwischen, dass die Menschheit nichts mehr aus ihren Fehlern der Vergangenheit lernen wird und dass sich Geschichte sowieso irgendwann wiederholt?
Justin Sullivan: Das habe ich tatsächlich lange Zeit geglaubt. Auf „Today Is A Good Day“ ist all das, was wir zum Börsenchrash von 2008 und seinen Folgen sagen wollten. Es erschien mir also nicht nötig, das nochmal zu sagen. Ich sitze ja nicht da und denke ständig darüber nach, in welcher Gesellschaft ich eigentlich lebe. Auf diesem Album gibt es auch einen Song über die Revolution in Ägypten. Meine Schwester lebt in Kairo und ich habe sie dort 2011 besucht. Darüber habe ich dann diesen Song geschrieben. Die meisten Songs handeln aber einfach über Menschen und ihre Beziehungen zueinander. Es ist eine Mischung aus meinen eigenen Erfahrungen und denen anderer Leute. Manchmal werde ich gefragt, was hinter diesem oder jenem Song steckt. Ich möchte dazu dann gar nicht viel sagen, weil ein Song immer von den Erfahrungen besetzt werden soll, die der Hörer selbst damit verbindet. Er soll sich seine eigene Interpretation dazu basteln.
Nächstes Jahr im Januar soll eine Filmdokumentation von Matt Reid über die Bandgeschichte von New Model Army erscheinen. Was können wir davon erwarten?
Justin Sullivan: Es wird wohl nicht im Januar, sondern irgendwann später im Jahr sein. Es ist in erster Linie sein Film und nicht unserer. Er ist auf uns zugekommen und hat gefragt, ob er einen Film über uns machen kann. Und es ist auch keine vollständige Zusammenfassung der Bandgeschichte, denn er kann keine 33 Jahre in einen Film packen. Der Film wird aber interessant sein für Leute, die noch nichts über New Model Army wissen. Es ist kein Film, den wir uns ausgesucht haben zu machen. Es ist seine sehr eigene Sicht der Dinge und spiegelt eine bestimmte Zeit unserer Geschichte wider. „Thunder And Consolation“ war das Album seiner Jugend und so handelt der Film vorwiegend von dieser Ära. Ich hasse den Film, weil ich die Vergangenheit hasse (lacht). Aber ich glaube trotzdem, dass es ein interessanter Film wird.
Das hoffe ich auch. Letzte Frage: Feierst du Weihnachten und wenn ja, wie?
Justin Sullivan: Das ist in jedem Jahr anders. Weihnachten ist ja eine deutsche Erfindung. Wusstest du das?
Nein. Eine deutsche Erfindung?
Justin Sullivan: Ja. Wieviele Bäume kommen in der Bibel vor? Früher gab es den Brauch am Jahresende all die Dinge zu essen, die sich nicht aufheben ließen. Man nannte das ein Fest des Lichts, um den kalten Winter und den Wechsel der Jahreszeiten zu feiern. Ab heute werden die Tage übrigens auch wieder länger. Wir nähern uns langsam wieder dem Sommer. Aber dieses ganze grosse Ding mit den Kerzen und dem Weihnachtsbaum ist deutsch. Es kam nach England mit Albert, dem deutschen Mann von Königin Victoria und wurde modern. Als Charles Dickens dann seine berühmte Weihnachtsgeschichte schrieb, wurde damit eine spezielle Version von Weihnachten etabliert und verbreitete sich rund um die Welt. Auch nach Amerika. Aber in Amerika hat Thanksgiving eine viel grössere Bedeutung. Das Weihnachten, das wir kennen, kommt aus Deutschland und von Charles Dickens.
Wieder was gelernt. Vielen Dank dafür und für das Interview!
Ein grosses Dankeschön geht auch an Oliver Bergmann (Oktober Promotion) für seine Unterstützung bei der Vermittlung dieses Interviews!
Einen Bericht über das New Model Army-Weihnachtskonzert im Kölner Palladium findet ihr hier!
Das New Model Army-Weihnachtskonzert in Köln ist für Band und Fans mittlerweile eine liebgewonnene Tradition. Zum vierzehnten Mal gibt sich das Quintett aus dem englischen Bradford nun schon die Ehre in der Domstadt. Seit mehr als 30 Jahren gehören New Model Army zur Speerspitze der Underground-Bewegung und ihr Stilmix aus Rock, Folk und Punk klingt immer noch genauso archaisch und kämpferisch wie zu Zeiten von „Vengeance“, „The Ghost Of Cain“ oder „Impurity“. Am 20. September erschien ihr inzwischen zwölftes Studioalbum „Between Dog And Wolf“, das mit Platz 31 den höchsten Charteinstieg der Band in Deutschland seit 1993 markierte.
Das Palladium ist heute die vorletzte Station ihrer gleichnamigen Tour. Wie immer dürfen diejenigen, die auf der Gästeliste stehen, fünf Euro für einen guten Zweck spenden, was wir gerne tun. Diesmal für den Hamburger „KiezKick“, ein kostenloses Fußballtraining für Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 18 Jahren auf St. Pauli. Es gibt noch Karten an der Abendkasse, aber vom Status „Ausverkauft“ dürfte das Palladium, wie sich im weiteren schweißtreibenden Verlauf des Abends herausstellt, nicht weit entfernt sein. Im Vorprogramm sorgen Bomb Whateva und die Levellers schonmal für gute Stimmung.
Die steigert sich noch, als New Model Army gegen 21.45 Uhr mit „Stormclouds“ endlich in ihr Set starten. Zur Freude der Fans haben sie zwei Special Guests mitgebracht. Zum einen Tobias Unterberg, der auf „Between Dog And Wolf“ das Cello einspielte und zum anderen Ed Alleyne-Johnson, der bis 1994 bei über 500 New Model Army-Konzerten den Part an der Violine übernahm, die Band dann als Freund verließ und heute in England vor allem Straßenmusik macht. Zu Beginn gehen die beiden noch leicht im etwas matschigen Sound unter, aber spätestens bei „The Hunt“ haben die Tontechniker die suboptimale Akustik des Palladiums im Griff. Vor der Bühne bilden sich die ersten Pogo-Pits und der Saunafaktor nimmt stetig zu.
„Between Dog And Wolf“ macht fast ein Drittel der Setlist aus. Mit gleich acht Songs ist das neue Album vertreten, darunter „March In September“, „Pull The Sun“ oder „Seven Times“. Ein eher ungewöhnlicher Umstand für New Model Army, der aber wohl den Stolz der Band auf ihr aktuelles Werk widerspiegelt. Justin Sullivan ist wie immer der Fels in der Brandung, während vor ihm ausgiebig gesungen, geklatscht und getanzt wird. Michael Dean legt mit seinen treibenden Drumparts das Fundament, auf dem sich Gitarrist Marshall Gill, Keyboarder Dean White und Bassist Ceri Monger, der alleine schon durch seine rotgefärbte Mähne auffällt, austoben können.
Natürlich dürfen dabei auch die Klassiker nicht fehlen. Während „Here Comes The War“ explodiert das Palladium förmlich. „Get Me Out“, „Vagabonds“ (bei dem Ed Alleyne-Johnson seinen grossen Auftritt hat), „Purity“ oder „Wonderful Way To Go“ als Abschluß des Mainsets versetzen selbst die älteren Semester im Publikum noch einmal in ungeahnte Bewegung. Als zwei Zugabenblöcke später um kurz vor Mitternacht die letzten Klänge von „Green And Grey“ verhallen, steht ein sichtlich überwältigter Justin Sullivan vor der feiernden Menge. Kann es einen schöneren Jahresabschluß geben als das New Model Army-Weihnachtskonzert in Köln? Wohl kaum. Bevor es mit Lametta und Besinnlichkeit endgültig losgeht, dürfen hier alle nochmal Party machen und eine Band bewundern, deren Spielfreude nach wie vor immens ist, deren Musik und Botschaften zeitlos sind und die auch im 33. Jahr ihres Bestehens so frisch und druckvoll klingt wie eh und je. Für das kommende Jahr gibt es bereits wieder erste Tourdaten und ich bin mir sicher, dass der traditionelle Termin in Köln auch nicht mehr lange auf sich warten lässt:
Kann es einen schöneren Jahresabschluss geben als das mittlerweile schon traditionelle New Model Army-Weihnachtskonzert in Köln? Wohl kaum. 2010 kam man sogar in den Genuß von zwei aufeinanderfolgenden Weihnachtskonzerten, mit denen das Quintett aus Bradford sein damaliges 30-jähriges Bühnenjubiläum feierte. So ist es keine Frage, dass auch wir uns neun Tage vor Heiligabend wieder auf den Weg in die Schanzenstrasse machen. Leider schaffen wir es nicht früh genug, um auch die Hamburger Punklegenden Slime noch live zu erleben, die – neben Ausgerechnet Wir – den Abend für New Model Army eröffnen. Das Palladium ist trotz dieses hochkarätigen Line-Ups überraschenderweise nicht ausverkauft.
Das Publikum präsentiert sich wie üblich bunt gemischt. New Model Army-Fans verstehen sich ja seit jeher als eine Art Familie („One Family One Tribe“) und so stehen Deutsche, Engländer und Holländer bei einer Kaltschale Kölsch einträchtig an der Theke. Der ein oder andere offensichtlich schon etwas zu lange. Hier und da spannen sich die alten New Model Army-T-Shirts um einige beachtliche Bierbäuche. Es herrscht eine erwartungsfroh-friedliche Stimmung. Als Justin Sullivan & Co. dann um kurz vor 22 Uhr zu den Klängen von „Frightened“ und in einem Meer aus Laserstrahlen endlich die Bühne betreten, sind sie alle im Jubel vereint. Seit dem letzten Weihnachtskonzert hat es einen Besetzungswechsel gegeben: Nach 22 Jahren verließ Anfang 2012 Bassist Peter „Nelson“ Nice die Band aus persönlichen Gründen. Sein Nachfolger Ceri Monger fällt nicht nur dank seiner langen roten Mähne auf.
Was sofort auffällt ist der Weltklassesound – beileibe keine Selbstverständlichkeit im Palladium. Die Instrumente sind perfekt ausbalanciert und Justin Sullivan’s Stimme schwebt förmlich durch die Halle. Die Setlist bietet eine ausgewogene Mischung aus alten und neueren Songs. Immerhin liegt das letzte New Model Army-Studioalbum „Today Is A Good Day“ nun auch schon wieder über drei Jahre zurück. Darunter natürlich solche Klassiker wie „51st State“, „Green & Grey“ oder „No Rest“, aber mit „March In September“ (was wohl noch nicht der endgültige Titel ist) auch ein bislang noch völlig unbekanntes Stück. Neben dem charismatischen Sullivan sorgt insbesondere Ceri Monger – im Gegensatz zu seinem Vorgänger – für reichlich Bewegung auf der Bühne. Da wollen die etwa 3.000 Fans nicht nachstehen und so wird im Palladium fleißig gehüpft, gepogt und getanzt. Dass sie jedes Wort auswendig mitsingen können, muss wohl nicht mehr extra erwähnt werden. Ist so! Ein besonderer Blickfang sind mal wieder die sogenannten „Dolphins“: Fans, die sich, auf den Schultern eines bemitleidenswerten Kollegen stehend, aus der Masse erheben und die Songs mit ausholenden Armbewegungen und anderen Gesten unterstreichen.
Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit spricht Justin Sullivan zwischen den Songs eher wenig. Muss er aber auch nicht, denn die Texte des 57-Jährigen sprechen seit dem Albumdebüt „Vengeance“ von 1984 eine mehr als deutliche Sprache. Stattdessen packen New Model Army satte 22 Stücke in knapp zwei Stunden Spielzeit und verwandeln das Palladium in eine schweißtreibende Party aus Rock und Folk. Wer an diesem Abend Besinnlichkeit erwartet hatte, der war fehl am Platze. Dafür gab es eine Band zu erleben, deren Spielfreude nach wie vor immens ist, deren Musik und Botschaften zeitlos sind und die auch im 32. Jahr ihres Bestehens so frisch und druckvoll klingt wie eh und je. Am 21. Dezember des kommenden Jahres folgt dann die 14. Auflage der New Model Army-Weihnachtskonzerte und da sind wir bestimmt alle wieder mit am Start. Bis dahin: Schöne Bescherung!