Nach den Jubelchören der letzten Jahre erfährt auch die Castingreihe „The Voice of Germany“ zunehmend Kritik. Das mag daran liegen, dass die gespielten Kabbeleien der Juroren manchen Zuschauern inzwischen schwer auf die Nerven gehen, dass Pro7 und Sat1 zunehmend sensationsheischende Hintergrundgeschichten im Stil von RTL (aber bei weitem nicht so herzzerreißend) entwerfen, dass zu viel des Lobes dann irgendwann auch langweilig wird. Es hat einige Änderungen im Konzept gegeben. Das Singen hinterm Vorhang hat weiterhin stattgefunden, macht aber keinen Sinn, wenn die Juroren ohnehin nichts sehen. Die sogenannte „Herzlos-Regel“ fanden viele blöd, weil der Sangesgast, für den sich niemand umdreht, nun überhaupt kein Feedback mehr bekam. Und die „Sing-offs“ mit der rasanten Reduzierung der Teilnehmerzahl waren auch nicht das Gelbe vom Ei.
Was soll’s. Tay hat gewonnen. Vier Finalisten und zwei per Internet gewählte Wildcard-Inhaber sollten im Anschluss auf Tour gehen. Leider ist Robin Resch zu Beginn der Tour erkrankt und seitdem nicht mehr dabei. Da waren’s nur noch fünf, die in der Arena Trier aufkreuzten, um dem Publikum ihre TVOG-Show zu präsentieren. Auch das ist eine Neuerung, denn in den vergangenen Jahren tummelten sich stets ein Dutzend Sänger auf der Bühne. Jetzt war alles sehr reduziert. Statt der großen Showtreppe und einer an die Fernsehshow angelehnten Kulisse gab es diesmal ein aus Europaletten (!) zusammen gesetztes Bühnenbild. Band rechts und links, Mikros vor – und los. Mir hat dieses Ambiente gut gefallen, denn es passt zu einer Show, in der Stimme und Gesang im Mittelpunkt stehen, und nicht das große Brimborium.
Die Männer waren klar in der Überzahl: Sieger Tay Schmedtmann als softer Deutschpop-Interpret, der tätowierte Boris Alexander Stein, der verrückte Schweizer Marc Amacher und Nachrücker Stas Schurins. Als weibliche Verstärkung kam Lucie Fischer hinzu, die unter ihrem Künstlernamen Lilli Rubin wohl schon am meisten Bühnenerfahrung hat. Zum Glück kam die Musik nicht aus der Konserve, sondern von einer starken, fünfköpfigen Liveband plus Backgroundsängerin, die dann auch noch für weibliche Töne im Gesamtgeschehen sorgte.
Die Show in Trier startete pünktlich um 19.30 Uhr mit „Human“ von Rag’n’Bone Man, dem perfekten Song, um die stimmliche Bandbreite der fünf Sänger zu zeigen, die sich einer nach dem anderen auf die Bühne gesellten. Und schon der zweite Song „Cake By The Ocean“ brachte die Stimmung zum Kochen. Der Jubel in der Arena war für alle gleich stark. Jeder durfte also auf seine Fans hoffen, die ihn abfeierten. Egal ob als Solo-Performer oder im Gruppengeschehen.
Tay hat die softe Stimme mit großer Bandbreite. Er sang Stücke wie „Starke Schulter“ von Julian le Play und die schmachtenden Blicke der weiblichen Fans waren durchgehend spürbar. Auch Boris glänzte mit deutschen Tracks und interpretierte eine Gänsehautversion von Philipp Poisels „Eiserner Steg“. Stas war überraschenderweise der technisch beste Sänger des Abends und konnte vor allem in den hohen Tonlagen der englischen Titel glänzen, beispielsweise bei „Crazy“ von Gnarls Barkley. Die Stimmlage von Cee Lo Green bekam er glänzend hin.
Marc Amacher ist einfach ein verrückter Kerl und spielte dies voll aus. Mit rauchiger Stimme und extrovertierten Bewegungen sang er Depeche Modes „Personal Jesus“ und AC/DCs „T.N.T.“ in seinen urigen Versionen und machte sich die so oft schon gehörten Titel komplett zu Eigen. Ich hatte die Gelegenheit, backstage ein paar Worte mit ihm zu wechseln – und ja: er ist genauso crazy wie auf der Bühne. Ein ganz spezieller und überaus sympathischer Typ. Und dann war da noch Lucie, ebenfalls eine Rockröhre, die sehr kraftvoll Emeli Sandés „Next To Me“ sang und gemeinsam mit Stas „Don’t Let Me Down“ veredelte.
Das Publikum war mitten im Geschehen. Es gab zwar nur Sitzplätze, doch man stand bei den großen Hits stets geschlossen auf. Im ersten Teil gab es ein kleines Acoustic-Set. Danach waren die großen Hymnen wieder dran und Mark Forsters „Chöre“ beendete nach 50 Minuten den ersten Showteil.
Auch die zweite Halbzeit dauerte 50 Minuten. Kein Riesenkonzert also, aber eine sehr vielseitige Show mit großer Bandbreite. Es ging Schlag auf Schlag. Gemeinsam startete man mit Snow Patrols „Chasing Cars“, Tay und Stas interpretierten John Legends „Love Me Now“, dann gab Tay mit Boris und Lucie eine jazzige Variante von Alicia Keys‘ „If I Ain’t Got You“ zum besten. Eine hervorragende Songzusammenstellung, die noch getoppt wurde, als Boris eindringlich und gänsehauterzeugend „Still“ (Jupiter Jones) interpretierte und Marc mit Stas im Anschluss „Come Together“ rockte.
Boris hatte seinen eigen Song „Losgelöst“ schon im ersten Teil gesungen. Zum Ende hin war die Reihe an Tay, der „Lauf, Baby, Lauf“ in den Zuschauerrängen startete und sich dann durch die im Jubel vereinten Sitzreihen bewegte. Ein schöner Moment, der auch dem TVOG-Sieger sichtlich Freude machte. Er wirkt schüchtern, wird aber in solchen Momenten zur Rampensau.
Man kann zu TVOG sicher auch Negatives sagen. Doch eins ist sicher: Es ist ein Casting, bei dem die Stimme im Mittelpunkt steht und nicht verdrehte persönliche Geschichten mit Sensationscharakter. Hier wird auch niemand vorgeführt, weil er an grenzenloser Dummheit oder gnadenloser Selbstüberschätzung leidet. Die Coaches sind fair und geben gute Ratschläge. Die Songauswahl passt zu den Kandidaten. Der ein oder andere muss sich vielleicht etwas verbiegen, weil Heavy Metal halt nicht so massentauglich ist, aber alles in allem passt die Zusammenstellung und bleibt nachhaltig, wie man bei den ausgewählten Titeln zur Liveshow sieht.
Es mag sein, dass die Namen im Herbst 2017 schon vergessen sein werden. Ein Rückzieher beim ESC-Vorentscheid, ein letzter Platz beim ESC… Solche Berühmtheit erlangt man wohl nur ungern. Der Einzige, der es bislang wirklich längerfristig in Chartsphären geschafft hat, ist Max Giesinger. Und der hat TVOG noch nicht einmal gewonnen. Sei’s drum. Die fünf gegenwärtigen Stars genossen ihre Zeit des Ruhms und sangen zum Abschluss gemeinsam „Use Somebody“ (Kings of Leon) und als Zugabe Duffys „Mercy“. Dann war abrupt Schluss und die Zuschauer, die vorher Standing Ovations geleistet hatten, gingen zufrieden nach Hause. Auf ein Neues mit neuen Talenten bei Voice Kids und TVOG in Kürze – the show must go on.