Wer an Progressive Metal und Djent denkt, der rechnet mit Musik von Musikern für Musiker – und sonst für sehr wenige. Polyrhythmen, undurchsichtige Songstrukturen und meist aggressive Vocals erschweren den Genuss für den unbedarften Hörer. Monuments verschmelzen diese Elemente nun auf ihrer aktuellen Platte „In Stasis“ mit eingängigen Vocals und packenden Refrains. Das schafft Zugänglichkeit und reißt live auch den Letzten vom Hocker.
Monuments, das ist eine 2009 gegründete Progressive Metal-Band aus UK, die gemeinsam mit Genregiganten wie Periphery und Tesseract die Teildisziplin des Djent definierte. Nach diversen Lineup Änderungen scheinen die Briten mit Andy Cizek nun endlich das letzte noch fehlende Puzzleteil gefunden zu haben. Mit dem 2022 erschienen vierten Studioalbum „In Stasis“ liefern sie dafür höchst eindrucksvoll den Beweis.
Das MTC in Köln ist an diesem Samstagabend ausverkauft und gerammelt voll. Es ist eine von diesen Locations, die nicht viel brauchen, um eine familiäre und herzliche Atmosphäre zu liefern – am allerwenigsten eine Heizung. Dicht gedrängt, schwitzend erwartet das Publikum ein Feuerwerk und wird nicht enttäuscht. Die Energie des Raums kann man förmlich mit Händen fassen.
Den Abend eröffnen The Dali Thundering Concept, ein Pariser Quartett, das sich an einem Spagat aus Deathcore und Progressive Metal versucht. „God is dead“ heißt der erste Song. Den riffhungrigen Zuschauern wird schnell klar: Die Fahrtrichtung des Sets ist definiert. Spielend leicht, so scheint es, wird eine höchst explosive Mischung aus brachialen Riffs, brutalen Drums und erbarmungslosen Vocals vorgetragen. Alles eingefasst in merkwürdigste Taktarten, Tempiwechsel und gespickt mit Überraschungsmomenten. Das faszinierte und kopfnickende Publikum befindet sich auf einer konstanten (und aussichtslosen) Suche nach der „1“. Nach einer knappen halben Stunde ebnet ein unerwartet emotionales Finale den Weg für den Mainact.
Monuments betreten die Bühne, sie eröffnen mit „Cardinal Red“. Keine drei Sekunden später brennt die Luft, das Publikum wird von den Beinen gerissen. Eine schlicht unfassbare Energie erfüllt den kleinen Club, es ist kaum möglich, sich zu entziehen. Frontman Andy Cizek nutzt die Nähe zu den Zuhörern für diverse Crowdsurfing-Einlagen, die ihn freilich nicht von seiner absolut überzeugenden Performance abhalten. Gegen ein solches Brett aus Riffs von John Browne muss man sich erstmal durchsetzen.
Neben Songs der neuen Platte finden auch Tracks der älteren Alben ihren (berechtigten) Platz im Set. „Degenerate“ und „Regenerate“ begeistern, besonders aufgrund der überwältigenden Präsentation. Kein Bandmitglied kommt zum Stehen, die Bühnenpräsenz hätte besser nicht sein können. Trotzdem trägt Browne komplizierteste Riffs in gewohnt perfekter Umsetzung vor. Die Finger fliegen über das Griffbrett – mühelos. Wer einen Fehler findet darf ihn behalten.
Der Bass steht dem in nichts nach. Mit Werner Erkelens springt ein Niederländer live für den sonst gesetzten Bassisten Adam Swan ein, der bei dieser Tour nicht dabei ist. Gemeinsam mit dem neuen-alten Drummer Mike Malyan, dem man den Spaß an der Show zu jeder Sekunde (trotz anspruchsvollster Parts) ansieht, legt Erkelens ein durchdachtes und grooviges Fundament, das fetter kaum sein könnte.
Nach etwas mehr als einer Stunde schließt das Quartett mit „Lavos“ – doch das heisere und erschöpfte Publikum will mehr: Die Band packt „I, Creator“ aus – eine perfekt gewählte Zugabe, die auch dem Letzten noch das letzte bisschen Power raubt. Die energiegeladene Performance lässt keine Wünsche offen und überzeugt zu 100%: Progressive Metal kann mehr, als nur ein kleines Randpublikum überzeugen. In einer solchen Umsetzung ist diese Musikrichtung in Teilen sogar tanzbar – ganz sicher aber salonfähig!
Für viele Fans ist das achte Album der Kanadier RUSH, das im Jahr 1981 erschien, ihr bestes Werk. Gerade erst war mit „Permanent Waves“ ein überaus erfolgreiches Album der Band mit Geddy Lee, Alex Lifeson und Neil Peart erschienen und man wollte dem eigentlich ein Livealbum folgen lassen, doch dann nahm die überbordende Kreativität überhand. „Tom Sawyer“ und „Limelight“ wurden bereits vor den Albumaufnahmen ins Liveprogramm aufgenommen. Die LP erreichte Platz 1 in den kanadischen Charts sowie Platz 3 in den amerikanische und britischen Charts.
Markenzeichen des Albums sind die genialen Synthesizer-Einlagen, die Anfang der 80er Jahres ihres Gleichen suchten. Doch das war nicht alles. Ein Instrumental wie „YYZ“ war ein genialer Schachzug, wurde doch der Morsecode für den Flughafen Toronto in den Song eingebaut, der der Band gar eine Grammy-Nominierung einbrachte. Dazu kommen ein Rocksong wie „Limelight“ und das epische „The Camery Eyes“ mit elfminütiger Überbreite, aufgeteilt in „Part I, New York“ und „Part II, London“.
Mit „Moving Pictures“ schafften RUSH den verspielten Sprung ins neue Jahrzehnt und das Ergebnis klingt auch nach vierzig Jahren verdammt zeitlos. Kein Wunder, haben sie doch dem Stadionrock der 80er Jahre den Weg geebnet und waren ein Vorbild für den neuen Sound von Genesis oder für die Supergroup ASIA.
Mir liegt zur Review die 3CD-Version mit einem fulminanten Livekonzert vor, das am 24. und 25. Mäez 1981 in der Heimatstadt Toronto mitgeschnitten wurde. Allein dieses Konzert, das mit der Ouvertüre von „2112“ beginnt und das Gesamtwerk von RUSH nach zwölf Jahren Bandkarriere perfekt zusammenfasst, ist den Kauf der „40th Anniversary Edition“ wert – zumal es bisher keine offizielle Veröffentlichung besagten Mitschnitts gibt.
Kenner bekommen aber bei hinreichenden Möglichkeiten ihres Geldbeutels ein ganz anderes Rundum-sorglos-Paket: Die Super Deluxe Edition vereint drei CDs, eine Blu-ray Audio-Disc sowie fünf Heavyweight-LPs (schwarz, 180g). Die vierte Disc ist die Blu-ray-Audioversion des Originalalbums – neu abgemischt von den Originalbändern in Dolby-Atmos-Sound sowie in Dolby TrueHD 5.1 und DTS-HD Master Audio 5.1 Surround Sound. Außerdem sind auf der Blu-ray vier Bonusvideos enthalten und alle 180-Gramm-LPs der Super Deluxe Edition wurden mittels Direct to Metal Mastering (DMM) in halber Geschwindigkeit auf audiophiles Vinyl geschnitten.
Das Package enthält außerdem eine ganze Reihe von exklusiven Specials: Ein 44-seitiges Hardcover-Buch mit unveröffentlichten Fotos und neuem Artwork des ursprünglichen Sleeve-Designers Hugh Syme sowie neue Illustrationen zu jedem einzelnen Song. Dazu gibt es ausführliche Liner Notes von Kim Thayil (Soundgarden-Gitarrist), Les Claypool (Primus-Bassist/Sänger), Taylor Hawkins (Foo Fighters-Schlagzeuger), Bill Kelliher (Mastodon-Gitarrist) und Neil Sanderson (Three Days Grace-Schlagzeuger).
Abgerundet wird das massive Bonuspaket durch ein rotes Barchetta-Modellauto (Aufsteller) mit MP40-Nummernschild, zwei Signature-Schlagzeugsticks von Neil Peart (MP40-Logo), zwei in Metall geprägte Gitarrenplektren mit eingeprägten Unterschriften von Geddy Lee und Alex Lifeson, einen Nachdruck des offiziellen Tour-Programms von 1981, eine Emaille-Anstecknadel mit dem MP40-Logo, eine 3D-Lentikular-Lithographie, ein großes Konzertposter (Toronto 1981), einen Nachdruck des Konzerttickets zur Maple Leaf Gardens-Show 1981, ein Poster „Rush Through The Years 1973-1981“, einen YYZ-Gepäckanhänger und einen „All Access World Tour ’81“-Einleger. Der gesamte Inhalt ist in einer hochwertigen Lift-Top-Box untergebracht, auf der das grandios neu interpretierte Cover-Artwork von Hugh Syme zu sehen ist.
Gewohnte Kost von den Flower Kings, die wie üblich die Handschrift von Roine Stolt trägt. 18 Songs tragen den Hörer durch eine über anderthalb Stunden dauernde Klangreise. Der kürzeste ist Song 17, „Shrine“, mit 1:08, der längste Song 3, „Blinded“, mit 7:45 Minuten.
Ich bin kein ausgewiesener Fan der Band, trotzdem habe ich mir das Album gerade zum dritten Mal angehört. Es ist einfach faszinierend zuzuhören, wenn sich kreativ, blumig und kraftvoll Folk, Symphonic Rock, Elektronic, Jazz, Blues, Funk und der Prog der 1970er verschmelzen. Die epischen Texte tragen ihren Teil zur kurzweiligen Klangreise bei. Das Line-Up ist dank etlicher Gastmusiker länger als die Playlist. Wie bei Progtiteln nicht ungewöhnlich gefallen mir die längeren Stücke besser als die kürzeren.
Anspieltipps: der Opener „The Great Pretender“, „Blinded“, „A Million Stars“, „Revolution“ und „Open your Heart“.
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1. The Great Pretender (6:55)
2. World Gone Crazy (5:04)
3. Blinded (7:45)
4. A Million Stars (7:11)
5. The Soldier (5:23)
6. The Darkness In You (5:13)
7. We Can Make It Work (2:48)
8. Peacock On Parade (5:15)
9. Revolution (5:59)
10. Time The Great Healer (6:12)
11. Letter (2:25)
12. Evolution (4:47)
13. Silent Ways (5:01)
14. Moth (4:31)
15. The Big Funk (4:39)
16. Open Your Heart (5:17)
17. Shrine (1:08)
18. Funeral Pyres (7:14)
Die dänischen Progressive Metaller von VOLA gehören zu den Aufsteigern des vergangenen Jahres. Ihr Album „Witness“, das vor gut einem Jahr erschien, war der bisherige Höhepunkt ihrer Diskographie und überzeugte mit einem gelungenen Stilmix aus Progressive Rock, modernem Elektro, Industrial und Extreme Metal. Markenzeichen sind die klaren und emotionalen Gesangslinien von Asger Mygind, die auch gerne mal aggressiv durchbrochen werden.
Der neue Release „Live from the Pool“, der als CD/Blu-ray erscheint, ist ein atmosphärisches Meisterwerk, das genau zur richtigen Zeit in den Handel kommt. Hier konnte man nämlich die Qualitäten aus drei hervorragenden Alben in einem Konzert zusammenfassen, das seinesgleichen sucht.
Im September 2021 spielten VOLA eine intime Streaming-Show in einer atemberaubenden Live-Umgebung. „Live From The Pool“ fand im Schwimmbad des verlassenen Militärlagers Auderød auf Nordseeland in der Nähe von Kopenhagen statt. Das von dem weltberühmten Architekten Henning Larsen entworfene Gebäude ist heute Teil des Auderød-Naturparks. Ein Ort, an dem die Natur auf die Geheimnisse eines ehemaligen Militärstützpunktes trifft, der darauf wartet, erkundet zu werden.
Die Show bietet unglaubliche Performances aus ihrem Backkatalog, darunter „Alien Shivers“, „Stray The Skies“, „Whaler“, „Ghosts“ sowie Songs aus ihrem aktuellen Album. Das Ambiente des verlassenen Schwimmbeckens, das zum Teil von der Natur zurückerobert wurde, verleiht der Show die Düsterheit von Lost Places. Die mystische Lightshow mit Laser- und Stroboskop-Effekten gibt eine beeindruckende Atmosphäre dazu.
Bassist Nicolai Mogensen sagt zur Show: „Die Idee zu ‚Live From The Pool‘ entstand in einer Zeit, in der es besonders schwer war, eine Band mit einer internationalen Fanbase zu sein. Da die Covid-19-Pandemie Live-Shows und Tourneen praktisch unmöglich machte, waren wir gezwungen, sorgfältig und kreativ darüber nachzudenken, wie wir unsere Zuhörer auf neue Weise erreichen können. Wir wollten etwas Spektakuläres machen, das nicht wie ein Kompromiss aussah – und mit viel Hilfe von talentierten Leuten ist es uns gelungen, ein außergewöhnliches Online-Konzerterlebnis zu schaffen. […] Wir haben das gesamte Konzert, das sowohl neues als auch altes Material enthält, in einem verlassenen Hallenbad mit fünf Kameras und einer Drohne gefilmt, wobei die Szenerie von einer wunderschönen Lichtinstallation beleuchtet wurde, die von dem dänischen audiovisuellen Künstlerkollektiv Vertigo speziell für diese Show angefertigt wurde.“
Wer diese fantastische Band bisher noch nicht auf dem Schirm hatte, sollte sich von dem Live-Release überzeugen lassen. Visuell und auditiv ist das Konzert ein Hochgenuss, der sowohl Fans der härteren Klänge von Opeth und Porcupine Tree, aber auch des Artrock von Riverside und Anathema beglücken wird. Hier werden die besten Elemente der progressiven Genres unter einen Hut gebracht. Chapeau!
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Schon lange muss Thomas Thielen wohl damit leben, dass seine Musik stets mit den Klängen des Artrock einer Band wie Marillion verglichen wird. Ob ihn das wirklich nervt, sei mal dahin gestellt. Schließlich ist die Nähe zur Band einfach offensichtlich und t (so lautet der ungooglebare Künstlername) ist sich auch nicht zu schade, von Zeit zu Zeit live einen Marillion-Song zu covern.
Vor drei Jahren beendete t mit dem Album „solipsystemology“ eine schwermütige Trilogie, die mit den Werken „fragmentropy“ und „epistrophobia“ ihren Anfang nahm (HIER unsere Review dazu). „Ich habe meinen kinematographischen Ansatz noch mal neu gedacht und in Teilen in einer akustischen Landschaft gemixt, die eine neue Welt bietet, in der andere physikalische Gesetze gelten. Das war ein riesiger Haufen Arbeit, bei der mir einige Freunde mit Ideen zur Seite standen – zur Umsetzung nicht zuletzt der Leiter eines Max-Planck-Instituts mit Hilfe bei der Berechnung der Gesetze dieser neuen Akustik! Eno hat mal gesagt: Ein Tonstudio ist ein Musikinstrument.“ So erzählte uns der sympathisch-grummelige Soundarchitekt damals im Interview seine Vorgehensweise. Stilistisch ist das neue Werk noch ein Stück größer geworden. Ob es daran liegt, dass der Multiinstrumentalist und musikalische Alleingänger in Zeiten der Pandemie noch mehr Muße hatte, seine Ideen zu verwirklichen?
Beim ersten Hören muss ich zwangsläufig an meine Lieblingsband denken. Das geht gar nicht anders – und ein untrügliches Zeichen bekomme ich mal wieder von meiner Frau, die beim Mitfahren im Auto fragt, ob „das was Neues von Marillion“ ist. Was Thielen leistet, ist ohnehin unglaublich. Er hat eine emotionale Stimme, die an Steve Hogarth erinnert – er wandert durch die Oktaven und hat eine enorme Eindringlichkeit, mit der er seine Lyrics zum Leben erweckt. Hinzu kommen die Klangcollagen, die er als versierter Sounddesigner allesamt selbst schafft. Gitarrensoli klingen stilistisch wie von den progressiven Meistern, namentlich Steve Rothery und David Gilmour. Deren schwelgerische Spielart kann auch Thielen perfekt verkörpern. Dazu kommen ein entspannter Bass und sphärische Keybords. Dabei klingen diese noch versierter als fast alles, was heute im Neoprog geboten wird.
Ts Vocals stehen für mich immer an erster Stelle. Zu Tode betrübt in den melancholischen Tiefen, weinerlich und hochemotional in den Höhen. Er verstärkt sich selbst in polyphonen und chorischen Passagen, legt die Klangspuren übereinander – das ist eine fantastische künstlerische Leistung. Und auch in den Texten geht es ans Eingemachte. Thielen erzählt nicht irgendwas. Er hat philosophische Botschaften, die er vermitteln will. Nicht von ungefähr trägt das Werk den Titel „Pareidoliving“. Natürlich musste ich googeln um herauszufinden, dass Pareidolie das Phänomen meint, in Dingen und Mustern vermeintliche Gesichter und vertraute Wesen oder Gegenstände zu erkennen. Wer verträumt in den Wolkenhimmel blickt, weiß was gemeint ist.
Das Stück „A Relevant Lovesong“ findet sich als siebter Song auf dem Album, aber nicht im Tracklisting. Quasi Schrödingers Katze im Songformat. Das Album beschreibt eine Beziehung, die an der Projektion von gefühlter Wahrheit scheitert. Gibt es also überhaupt einen relevanten Lovesong oder ist er ein Trugbild? Mit solchen Details kann Thielen seine Fans in den Wahnsinn treiben – und tut dies mit Genuss.
Musikalisch ist das Album ebenso ausufernd wie die mit vielen Worten erzählte düstere Geschichte. Es geht manchmal opulent zu – mit eingespielten Streichern – dann nimmt ein Piano breiten Raum ein bevor die Gitarren zu alter Stärke zurückkehren. Thomas Thielen fährt im Alleingang alles auf, was der moderne Prog und Artrock zu bieten hat. Sein Perfektionismus macht ihn inzwischen zum deutschen Steven Wilson. Nur besser.
Das Album findet ihr bei den gängigen Progressive Rock-Händlern und HIER direkt beim Label GEP.
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Im Jahr 1981 wurden ASIA als sogenannte „Supergroup“ gegründet. Was das heißt? Bekannte Künstler tun sich für ein neues Projekt zusammen. Oft sind das nur kurzfristige Kollaborationen und selten haben diese so lange Bestand wie bei ASIA. Geoff Downes, John Wetton, Steve Howe und Carl Palmer waren ein für diese Zeit quasi unschlagbares Quartett aus Mitgliedern bekannter Progressive Rockbands. Dass sie mit „Heat Of The Moment“ ihren größten Erfolg im Mainstream-Pop hatten? Geschenkt! Immerhin mischte der schmissige Titel das damalige Radioformat ganz schön auf und trug weiter zur weltweiten Bekanntheit der Band bei.
Die Geschichte von ASIA ist spannend und mit vielen Wendungen verbunden. Die großen Erfolge der beginnenden 80er Jahre, die Auflösung 1985, eine Neugründung 1989. Es gab unzählige Wechsel im Line-up und Ende der 90er den gescheiterten Versuch einer Wiederbelebung in Originalbesetzung. Gelungen ist dieser schließlich im Jahr 2005 und mit „Phoenix“, „Omega“ sowie „XXX“ erschienen drei respektable neue Studioalben, die die Herzen der Fans zwar nicht zum explodieren brachten, aber doch höher schlagen ließen. Das letzte Studioalbum „Gravitas“ erschien im Jahr 2014. Auch wenn vermutlich nicht mit neuen Heldentaten zu rechnen ist, sind ASIA doch noch theoretisch live aktiv – zumindest wenn die Pandemie dies zulässt. Anstelle des verstorbenen John Wetton findet sich normalerweise Billy Sherwood (YES) am Bass und der US-Rocker Ron „Bumblefoot“ Thal ersetzt Steve Howe.
Freunde gepflegter Livemusik können sich nun freuen, denn ASIA tun es geschätzten Kollegen wie Marillion, UFO oder Tangerine Dream nach und veröffentlichen eine offizielle Bootleg-Sammlung, um unseriösen Händlern ein Schnippchen zu schlagen. Auf „Volume 1“ widmet sich die Supergroup ihren beiden Hochphasen: Die ersten beiden Livealben entstammen der Gründungszeit Anfang der 80er, als die Band weltweite Erfolge mit „Asia“ und „Alpha“ feierte. Danach gibt es einen Zeitsprung von 25 Jahren zur umjubelten Reunion-Tour 2007 und den Konzertreihen jeweils nach Veröffentlichung von „Phönix“ (2008) und „Omega“ (2010).
Da jedem dieser Livealben trotz großer Gemeinsamkeiten in der Setlist ein aktuelles Studioalbum zugrunde liegt, bietet die Box genügend Vielfalt, um Fanherzen höher schlagen zu lassen. Es sind fünf Doppel-CD-Sets im schicken Digipack, die sich in einen Pappschuber einfügen. Das Artwork stammt vom genialen Roger Dean, der schon zuvor alle ASIA-Alben designt hat und auch diesen Release zum schmucken Sammlerstück macht. Zwar enthält nicht jeder Mitschnitt ein eigenes Booklet, doch das ist gar nicht nötig. Die Box beinhaltet ein Begleitheft mit einem historischen Abriss des renommierten ASIA-Biografen Dave Gallant und allen nötigen Infos zu den gespielten Tracks.
Live At Kleinhams Music Hall, Buffalo, NY, USA, 3 May 1982 wurde sechs Wochen nach Erscheinen des Debütalbums mitgeschnitten. Es wurden alle Tracks von „Asia“ gespielt und mit „Midnight Sun“ gab es einen Ausblick auf das zweite Album. Da man damit kein ordentliches Liveset füllen konnte, durften die Protagonisten mit ausgiebigen Solo-Passagen ran. Steve Howe brachte „The Ancient“ und „Clap“ von YES zu neuer Blüte, Geoff Downes durfte lange sphärische Keyboardpassagen gemischt mit rhythmischen Ausschweifungen beitragen und Carl Palmer bekam seinen großen Schlagzeugmoment während „Here Comes The Feeling“. Den krönenden Abschluss bildete „Heat Of The Moment“, bei dem John Wetton allerdings stimmlich etwas einknickte. Vielleicht ein Beleg dafür, dass man das bekannteste Stück nicht immer ans Ende stellen sollte. Der Mitschnitt ist leicht basslastig, aber in Anbetracht des Alters sehr gut anhörbar.
Live At Centrum, Worcester, MA, USA, 22 August 1983 entstand einen Monat nach dem Release von „Alpha“. Der Zweitling hatte immerhin Top-10-Positionen in Europa und den USA erreicht, womit ASIA zeigten, dass „Heat Of The Moment“ kein One-hit-wonder war. Bemerkenswert ist das jubelnde Publikum in Worcester bei Wettons Ansagen. Seine Vocals sind sehr deutlich abgemischt, während die Instrumentalfraktion allerdings sehr dumpf klingt. Der Mix aus beiden Studioalben war perfekt, wobei das neue Werk mit sieben Stücken gut vertreten war. Und auch Steve Howe bekam wieder ausgiebige Solomomente, die seinen Status als Ausnahmegitarrist unterstrichen.
Live At Credicard Hall, São Paulo, Brazil, 23 March 2007 hat fast eine identische Setlist wie das bekannte Livealbum „Fantasia: Live in Tokyo“. Einziger Unterschied: Howe spielt auch hier „Clap“ anstatt des „Intersection Blues“ von „Fantasia“. Es gab bei dieser Tour einen Rundumschlag durch die Bandkarriere und in das Soloschaffen des Quartetts: Neben Yes’ „Roundabout“, ELPs bekannter „Fanfare For The Common Man“ und dem Klassiker „In The Court Of The Crimson King“ wurde auch das poppige Buggles-Stück „Video Killed The Radio Star“ dargeboten. Was für ein Spaß! Natürlich endete der Set mit „Heat Of The Moment“. Man stand nach 25 Jahren also quasi am Anfang. Der Sound ist glasklar, während man ab und zu das enthusiastische brasilianische Publikum im Hintergrund erahnen kann.
Live At International Forum, Tokyo, Japan, 12 May 2008 sieht die Band kurz nach Veröffentlichung von „Phoenix“. Der Mitschnitt in zeitlicher Nähe zum Studiorelease scheint ein Auswahlkriterium bei den Bootlegs gewesen zu sein. Um so mehr fällt ins Auge, dass dieser mit „Never Again“ und „An Extraordinary Life“ stark unterrepräsentiert ist. Stattdessen hatte man den Rundumschlag durch die Bandkarrieren so belassen, wie er auf der vorherigen Tour war. Schade, denn vor allem YES und King Crimson hätten doch wahrlich noch andere Klassiker zu bieten. Soundtechnisch allerdings gibt es nichts zu meckern. Und „Heat Of The Moment“ steht nicht am Ende des Sets. Bravo!
Live At HMV Forum, London, UK, 14 December 2010 ist quasi das fehlende Glied zwischen „Fantasia“ und dem „Symfonia“-Mitschnitt aus 2013. „Omega“ war im April 2010 erschienen und es waren die letzten Auftritte im Königreich in der Ur-Besetzung. 2012 musste die UK-Tour gecancelt werden und 2013 verließ Steve Howe die Band. Mit „Finger On The Trigger“, dem melancholischen „End Of The World“, „I Belive“ und „Holy War“ gab es vier aktuelle Stücke von „Omega“. Ein erdiger Sound und ein gut hörbares Publikum zeugen hier von bestem Bootleg-Sound, der gegenüber dem 2008er Konzert klanglich allerdings wieder abfällt.
„Diese historische Sammlung repräsentiert einige unserer besten und prägendsten Live-Momente“, erklärt Geoff Downes, „von der allerersten ASIA-Tournee 1982 und der Alpha-Tournee im Jahr darauf bis hin zu drei unserer vielen Reunion-Shows. Es war ein großes Privileg, die Musik von ASIA auf diese verschiedenen Kontinente zu bringen und weltweit die Unterstützung der Fans zu spüren. Wir hoffen, dass dies großartige Erinnerungen wachruft und andere dazu inspiriert, die Musik von ASIA zu schätzen“.
Die Sammlung mit fünf Konzerten von vier Kontinenten ist umfassend und zeigte alle Stärken der Band zu ihren Glanzzeiten. Dass die Box den Titel „Volume 1“ trägt, macht Hoffnung auf weitere Veröffentlichungen – vielleicht auch mit Mitschnitten aus den 90er Jahren.
„Versions of Truth“ heißt das aktuelle Album der britischen Progressive Rocker um den genialen Bruce Soord. So ist der Albumtitel „Nothing but the Truth“ ein klares Understatement, denn es werden keineswegs nur Songs des letzten Studio-Longplayers gespielt. Im Gegenteil! Das Livealbum ist ein gelungener Ritt auf zwei Silberscheiben durch die Bandgeschichte.
Die Entstehung ist – wie sollte es anders sein – der Pandemie geschuldet. Das Quintett konnte nicht live auftreten und entschied sich für ein Streaming-Event. Man nutzte die besondere Situation und schuf ein intimes Ambiente mit einer Band, die sich im Kreis aufstellte und von unzähligen Kameras gefilmt wurde. So entstand ein cineastischer Konzertfilm, der jetzt auch auf DVD und Blu-ray erhältlich ist.
Hier soll es aber um die 2CD-Version gehen. Und auch die hat es in sich. Seit fünf Jahren ist Schlagzeuger Gavin Harrison mit an Bord und hat inzwischen ebenso großen Einfluss auf den Sound der Band wie Gitarrist und Sänger Bruce Soord. So dürften Kenner der älteren Tracks aufhorchen, wenn sie die neuen Arrangements hören, die einen enormen rhythmischen Drive bekommen.
Soord kommentiert zu „Someone Pull Me Out Of Here“: It felt really special to do this song after so many years, it’s still one of my favourite compositions and with Gavin adding his brand-new drums it feels completely new. From a compositional point of view, it’s quite unique in that, even though on the surface it’s a straightforward rock song, it travels through quite a lot of time signature changes. Although the key for me is that no one is supposed to notice that…”
Die Doppel-CD klingt wie ein Studioalbum, hat aber viel mehr Charme als eine Compilation neuer und älterer Songs im Remix. Der Flow von Track zu Track ist stimmig und führt uns eine spielfreudige Band vor Augen, die das Beste aus der ungewöhnlichen Situation macht. So kombiniert man die Energie eines Livekonzerts gekonnt mit auditiv beeindruckenden Studioaufnahmen.
Seit Jahrzehnten gehören The Pineapple Thief zur Speerspitze des melodischen Artrocks. Sie liefern atmosphärische Musik sowie epische Momente – und ziehen hier alle Register ihres Könnens. Wie immer dominieren ruhige Songs, es kann aber auch mal heftig krachen („Break It All“). Und in „Far Below“ wird die Gitarrenarbeit deutlich ausgebaut.
Es war die erste Liveperformance der neuen Songs – und gleichzeitig haben The Pineapple Thief ein Gesamtkunstwerk abgeliefert. Sie standen auf ihren „kleinen Inseln“ (wie Soord es ausdrückt) und lieferten das vielleicht beste Konzert ihres Lebens ab. Magisch!
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Mit seinem Prog-Projekt Ayreon stellt der Niederländer und Multiinstrumentalist Arjen Anthony Lucassen seit beinahe einem Vierteljahrhundert immer wieder packende Mammut-Musikepen wie „Into the Electric Castle” (1998), „The Human Equation” (2004), „01011001” (2008), „The Theory Of Everything” (2013) und zuletzt „The Source” (2017) auf die Beine, die mit Blick auf Produktion, Ausstattung, die Vielzahl und das Können der Beteiligten, sowie vor allem hinsichtlich der Strahlkraft der jeweiligen Kompositionen Maßstäbe setzen.
In der Vergangenheit zog Arjen Lucassen seine Inspiration häufig aus Wissenschaft und Science Fiction, doch hier ist es anders. Das „Transitus”-Konzept basiert auf einer mit Gothic- und Horror-Elementen angereichten, im Jahr 1884 spielenden Geschichte um Leben, Tod und allerlei übernatürliche Phänomene. Es geht um die Zwischenwelt zwischen Leben und Tod, in die es den Protagonisten verschlagen hat. Von hier aus erzählt er die Geschichte seiner verbotenen Liebe zur farbigen Dienerin Abby.
Mit rudimentären Englischkenntnissen ist es schwierig, der Story zu folgen. Und ich muss sagen, es ist ein Unding, dass der normalen 2CD-Version keine Texte, ja nicht einmal ein erklärendes Booklet beiliegen. Allein die Galerie der vielen prominente Mitwirkenden ist zu sehen. Wer also tiefer in die Materie einsteigen will, braucht das große Earbook, das sogar ein Comic des chilenischen Zeichners Felix Vega mit der Storyline enthält.
Als prominenter Storyteller fungiert der britische Schauspieler Tom Baker, der in den 1970er-Jahren als Star der von der BBC produzierten Kult-Fernsehserie „Dr. Who” Berühmtheit erlangte. Daneben erscheinen Solisten wie Cammy Gilbert (Oceans of Slumber) , Paul Manzi (Arena), Tommy Karevik (Seventh Wonder, Kamelot), Dee Snider (Twisted Sister), Johanne James (Threshold), Simone Simons (Epica) und Marcela Bovio (Mayan).
In der Musik spiegeln sich neben Einflüssen großartiger Komponisten wie John Carpenter, Ennio Morricone und Jerry Goldsmith auch solche aus Lucassens liebsten Rockopern wie „Jesus Christ Superstar”, „Tommy” und „Krieg der Welten” wider. Vor allem die Musical-Elemente nehmen diesmal großen Raum ein. Doch keine Sorge: Die Fans bekommen auch den üblichen Rundumschlag aus Hardrock, Metal, Folk, mittelalterlichen und orchestralen Elementen. Selbst gregorianische Choräle tauchen auf, um den gotischen Flair zu erzeugen. Also viel Bombast, der aber im Sinne der schaurigen Geschichte wirkt.
Arjen Lucassen beschreibt „Transitus” als sein bislang filmischstes und im postiven Sinne ungeheuerlichstes Oeuvre: „Der Spirit von Progressive Rock besteht darin, zu experimentieren und immer wieder Neuland zu betreten. Genau das hatte ich mit ‘Transitus’ im Sinn. Deshalb ist es anders geworden, als man es von Ayreon bisher kennt – theatralischer und ein bisschen wie ein Musical.” Dass das Album bei all dem wieder die von Ayreon-Fans so geliebte epische Wucht aufweist und über weite Strecken wonnevoll heftig rockt, versteht sich wohl fast von selbst.
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Schon seit langem hat Fish seinen Abschied von der musikalischen Bühne angekündigt. Selten genug kommt es vor, dass ein Künstler ein Album als finales Werk bezeichnet. Meist ist es doch eher die Erfolglosigkeit, die das Ende der Kreativität einläutet. Bei Fish ist es anders: Er möchte schlicht und einfach in den Ruhestand gehen. Auch das sollte großen Künstlern gegönnt sein. Dass es dann etwas anders gekommen ist als geplant, ist familiären Dingen geschuldet, Problemen bei der CD-Produktion und natürlich der Corona-Krise. Der Tod des Vaters war ein Rückschlag, dann die Tatsache, dass er seine Mutter aus gesundheitlichen Gründen im eigenen Haushalt aufnehmen musste – und auch das Vorgehen mit dem eigenen Label Chocolate Frog Records: Verhandlungen mit den Manufakturen sind halt schwieriger, wenn keine große Plattenfirma dahintersteht.
Eigentlich sollte Fish inzwischen auf Tour sein, um das neue Album gemeinsam mit dem „Vigil“-Album vorzustellen, doch die Pandemie hat das Vorhaben auf Ende 2021 verschoben. Die Pension muss also noch etwas warten.
Einen Vorteil hat die Verschieberei zumindest: Aus dem Standardalbum ist eine Doppel-CD geworden und es klingt vermutlich ausgereifter als dies vor zwei Jahren der Fall gewesen wäre. Wenn man so will, legt Fish hier sogar zwei Abschiedsalben vor, denn die Silberlinge können durchaus jeweils für sich selbst stehen. Es geht um die großen Themen unserer Zeit: die Flüchtlingskrise, allgemeine Unzufriedenheit mit der sozialpolitischen Lage, aber auch um Krankheitsbilder wie Depression und Demenz. So wird „Weltschmerz“ zum ganz großen Werk, das Fishs musikalische und erzählerische Klasse zusammenfasst.
Nehmen wir „Grace of God“, ein episches Stück ganz zu Beginn mit Glockenspiel und ausufernd orchestralen Passagen, verfeinert durch harmonischen Backgroundgesang. Der 8minüter passt perfekt zu den Songs von Fishs erstem Soloalbum und schließt gewissermaßen den Kreis. Ein hervorragender Auftakt mit perfektem Songaufbau.
„Man with a Stick“ ist schon länger bekannt, da es auf der letzten EP erschienen ist und mehrfach live gespielt wurde. In der neuen Fassung hat der modern klingende Track aber nochmal an Energie und rhythmischer Stärke hinzu gewonnen.
„Walking on Eggshells“ beschreibt musikalisch den schwierigen Tanz, den eine Beziehung häufig bedeutet. Ein Lovesong mit beschwingten und düsteren Momenten. Die Thematik ähnelt Klassikern wie „A Gentleman’s Excuse Me“ und „Rites of Passage“.
Als rhythmisch vertrackter Folksong ergänzt „This Party’s Over“ die bei den Fans so beliebten Dancing Tracks, die jedes Livekonzert bereichern, und erweitert sie um einige Nuancen, da der Song doch komplexer klingt als „Internal Exile“, „Lucky“ oder „The Company“. Auf jeden Fall schön, mal wieder schottische Pipes auf einem Fish-Album zu hören.
Herzstück von CD 1 ist aber „Rose of Damascus“, das in über 15 Minuten die Syrienkrise behandelt und den Hörer in Form einer weltmusikalischen Suite mit auf eine bewegende Reise nimmt. Orchestrale Arrangements, Spoken-word-Passagen, aggressive und sanfte Momente – hier fährt Fish alles auf, womit er in 30 Jahren Solokarriere (und schon zuvor bei Marillion) die Progwelt begeistern konnte. „She was searching for a vision, some sign to give direction, in this wasteland where it’s a curse to be alive […] To carry on her journey to find another homeland somewhere to blossom and come alive.“ Beschrieben werden das Leben einer Frau in Syrien bis hin zur Flucht übers Meer mit offenem Ende. Wie in einem großen Breitwand-Kinofilm erzählt Fish eine Geschichte und lässt den Hörer betroffen zurück.
Damit wäre schon ein hervorragendes Album auf dem Plattenteller, an dem es nichts zu meckern gibt, doch wir haben ja noch CD 2 vor uns. Auch diese liefert 42 Minuten Musik und hat nur einen Track unter fünf Minuten. Dabei scheinen die Longtracks keineswegs künstlich in die Länge gezogen sondern brauchen ihre Zeit, um sich zu entwickeln.
Auffällig sind die melancholischen Stücke „Garden of Rememberance“ und „Waverly Steps“, die jeweils mit eindringlichen Worten ein Krankheitsbild beschreiben, nämlich Demenz und Depression. Fish findet sich ein in die Gedankengänge der betroffenen Menschen. Vor allem „Garden of Rememberance“ finde ich dabei sehr berührend, da er autobiografische Inhalte verarbeitet und eine perfekte Ballade abliefert. Ebenso wie der Song „Fragezeichen“ von Purple Schulz sollten auch dieser Song und das dazugehörige Video zum Lehrinhalt in der Altenpflege werden. Fishs Gang durch die Bildergalerie der Erinnerungen veranschaulicht wundervoll das Empfinden dementer Patienten und ihrer Angehörigen. Dass er dafür das wundervolle Artwork von Mark Wilkinson verwendet, den viele Fans mit Fishs Musik verknüpfen, macht das Video noch genialer.
„C Song“ ist für mich der einzig belanglose Song auf der ganzen Albumlänge, enthält aber wie sein Pendant auf CD 1 ebenfalls schottische Folk-Elemente und befreit von der durchgängigen Schwermut des Albums. Das wird allerdings zunichte gemacht durch die gewaltigen Songs „Little Man What Now?“ und den Titeltrack „Weltschmerz“. Ersterer basiert auf dem gleichnamigen Roman von Hans Fallada, der Weltwirtschaftskrise und Erstarken des Nationalsozialismus am Bild des kleinen Mannes beschreibt, der schicksalsergeben durch die verrückt gewordene Welt stolpert. In Zeiten von neuem Rechtspopulismus, Klimakrise, Brexit und Covid-Pandemie kann man sich in diese deterministische Haltung nur zu gut einfinden. Musikalisch kommt ein prägnantes Jazz-Saxofon zum Einsatz, das den Schmerz herzzerreißend zum klingen bringt.
Und daneben gibt es eben genau den „Weltschmerz“, mit dem Fish schon seit Jahren hadert – und für den er bewusst einen deutschsprachigen Begriff wählte, den Jacob und Wilhelm Grimm bereits im 18. Jahrhundert in ihrem Deutschen Wörterbuch verwendeten und mit dem sie eine tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt beschrieben. Fish beschreibt sich, seine Rolle in der Welt und seine politische Einstellung mit intensiven und ehrlichen Worten – und geht damit zurück in die Zeiten von „Fugazi“ und „White Feather“, als er noch der junge Wilde im Musikgeschäft war – „When the revolution is called I will play my part“ – auch heute noch. Ruhestand hin oder her.
Calum Malcolm und Steve Vantsis haben als Produzenten eine hervorragende Arbeit geleistet, wobei Vantsis auch als musikalischer Madtermind tätig war und die meisten Stücke mit geschrieben sowie arrangiert hat. „Weltschmerz“ ist ein Statement unserer Zeit und ein hervorragendes Abschiedsalbum. Vielleicht sein bestes Soloalbum seit „Vigil“.
Erhältlich ist das Album zunächst nur auf Fishs Homepage: https://fishmusic.scot/store/albums/weltschmerz/17
Digitaler Link, Standrad-CD, Vinyl – alles was das Herz begehrt. Die Deluxe Edition im A5-Hardcover-Format enthält umfangreiche Liner Notes, das fantastische Artwork von Wilkinson und eine Blu-ray mit Videos, Interview, Making of und live Audio Tracks von der 2018er Tour.
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Kristoffer Gildenlöw ist vor allem bekannt als ehemaliges Mitglied der skandinavischen Progressive Rocker Pain of Salvation, die unter der Ägide seines Bruders Daniel bis heute federführend in der Szene wirken. Kristoffer hat sich bereits 2006 von der Band verabschiedet, um einen eigen musikalischen Weg zu gehen. Die Zusammenarbeit mit der Band des Bruders war immer schwieriger geworden, da er in den Niederlanden lebte – also weit weg von Schweden. Auf Solopfaden hat er nun mit Größen wie Lana Lane, Neal Morse, Flaming Row und Damian Wilson gearbeitet, die überaus erfolgreiche Supergroup Dial musikalisch unterstützt, Veteranen wie Kayak begleitet und mit „Homebound“ veröffentlicht er bereits das dritte Soloalbum seit 2012.
Das Solowerk von Kristoffer Gildenlöw ist durchgehend in leisen Tönen gehalten. Seine Vocals klingen sehr düster, sehr zerbrechlich. Er hat eine sanfte Stimme, die bisweilen ins weinerliche ausschlägt. So erwartet den Hörer eine emotionale Reise, die Fans von Roger Waters, Anathema und Elbow durchaus begeistern dürfte. Der Einsatz von Instrumenten ist dabei sehr dezent – als wolle man die musikalischen Gedankengänge des Sängers möglichst wenig stören.
Ein Song wie „Like Father To Son“ enthält alles, was die Musik von Gildenlöw ausmacht: Pure Emotionen und der Hang zum Erzählen. Poetisch und berührend! Und wer nach Überraschungen sucht, höre einfach den Blues von „Our Home“ oder den filigranen Piano-Abschluss „You Need Not Stay (Away)“.
Alles in allem ist “Homebound” eine sehr verträumte Reise durch Erinnerungen und Träume – eine Mischung aus Ambient, Art Rock und Folk. Wer sich darauf einlässt, bekommt ein wunderbares und stimmungsvolles Album, das in sich sehr geschlossen klingt.
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„Hemispheres“ war Rushs sechstes Studioalbum und ein Werk von unglaublicher musikalischer Wucht. Im Oktober 1978 erschienen folgte es dem Stil von „A Farewell To Kings“ und ließ die Band progressiver und vor allem härter klingen. Die komplexen Songstrukturen sorgen bei Fans und Freunden des gepflegten Progressive Rock bis heute für Verzückung. „Cygnus X-1 Book II: Hemispheres“ erzählt auf einer ganzen LP-Seite die Geschichte weiter, die man mit „Cygnus X-1 Book I: The Voyage“ auf dem Vorgängeralbum gestartet hatte. Eine wundervolle Suite in sechs Teilen, die alles ausmacht, wofür Rush in den 70er Jahren standen. „Circumstances“ frönt dem Hardrock, während „The Trees“ von einem ruhigen Akustikpart bis zu ausufernden Synthesizer-Part alles enthält, was Proggies Freude macht. Zum Abschluss gibt es mit „La Villa Strangiato“ ein recht experimentelles Instrumental.
Zum 40jährigen Jubiläum erscheinen vier Editionen:
Super Deluxe Edition inkl. 2 CDs, einer BluRay-Audio-Disc und drei 180g-LPs
2CD Deluxe Edition
3LP Deluxe Edition
Deluxe Digital Edition
Mir liegt zur Review die 2CD Edition vor. Schön aufgemacht im Digipack auf Hochglanzpapier. Das Set enthält ein informatives Booklet mit viel Text, für das man allerdings eine Lupe braucht. Die Bonus-CD enthält einen Mitschnitt vom Pinkpop Festival (4. Juni 1979) mit den Songs von „Hemispheres“ sowie älteren Titeln, u.a. „A Passage To Bangkok“ und „Xanadu“. Ergänzt wird der Livemitschnitt durch die komplette „2112“ Suite, mitgeschnitten am 20.11.1978 in Arizona. Somit bietet schon diese abgespeckte Jubel-Version einen feinen Rundumschlag, der die Rush der späten 70er Jahre gut darstellt.
Die beiden Australier Daniel Holdsworth und Aidan Roberts sind zwei hervorragende Musiker. Multi-Instrumentalisten, wie sie sich jeder Künstler in seiner Band wünscht. Sie beherrschen Gitarren, Keyboards, allerlei Schlagwerk – nur an den stimmlichen Fähigkeiten hapert es ein wenig. Dafür hat man ja den Lead-Sänger. Holdsworth hat in diversen Bands gespielt und sich als Komponist einen Namen gemacht, Roberts ist noch nicht so prominent in Erscheinung getreten. Damit wäre alles gesagt, hätten die beiden nicht vor etwas mehr als vier Jahren eine seltsame Idee gehabt: Man müsste das Meisterwerk von Mike Oldfield „Tubular Bells“ als komplexes Werk auf die Bühne bringen. Nicht mit einem Mammut-Orchester, sondern als fein arrangiertes Stück, eingespielt von zwei Personen. Kurz gesagt – sie wollten das Unmögliche möglich machen. Ein Vorhaben, das als Schnapsidee begann und den beiden seither Monat um Monat, Jahr um Jahr ausverkaufte Häuser in aller Welt beschert. Ein Fest für Freunde der progressiven Rockmusik.
In Trier waren die beiden in der ehemaligen Reichsabteikirche St. Maximin zu Gast. Ein kluger Schachzug der Veranstalter von Popp Concerts. Die Kirche wird übers Jahr vor allem als Turnhalle (!) für die angegliederte Privatschule genutzt, doch zu besonderen Ereignissen wird sie zu einer akustisch hervorragenden Konzerthalle. Der Altarraum ist eine große Bühne, die Säulen lassen sich hervorragend ausleuchten, der Klang im hohen Kirchenraum ist einfach fantastisch. Davon überzeugte sich und die Zuhörer zunächst der Supportact Brett Winterford.
Winterford stammt ebenfalls aus Australien und ist ein Singer / Songwriter alter Schule. Er stellte sich mit seiner Gitarre auf die Bühne und legte munter los. Ein halbstündiger Set aus eigenen Songs von Liebe, Leidenschaft und Vergänglichkeit. Das wurde mit viel Applaus bedacht – vor allem, als er sich entschied, ganz auf Mikrofon und Verstärker zu verzichten und einfach mal ein Lied in die andachtsvoll lauschende Kirche zu schmettern. Ein großer Moment, der ahnen ließ, dass sich hier viele Musikbegeisterte versammelt hatten und bereit waren, sich von dem Geschehen tragen zu lassen.
Nach kurzer Umbaupause enterten die Protagonisten des Abends die Bühne. Und es sollte eine knallharte Performance werden, die den Zuschauern im Anschluss um die Ohren flog. Auch nach 40 Jahren bleibt es das Debütalbum „Tubular Bells“, an dem sich das Werk von Mike Oldfield mit jeder Veröffentlichung messen lassen muss. Seine berühmteste Komposition nahm er als 19jähriger fast im Alleingang auf, spielte verschiedenste Instrumente in mehreren Tonspuren ein und vereinte sie zu einem zweiteiligen Stück, das heute noch Maßstäbe setzt. Wer kennt sie nicht – die Eröffnungspassage, die in „Der Exorzist“ verwendet wurde und seitdem in aller Ohren ist? Für die Frühphase des Progressive Rock war das Album wegweisend und gilt heute noch als sphärisches Referenzwerk.
So ging es ruhig los mit den berühmten Klängen, die als Loop die Basis für den Eröffnungspart bildeten. Auf einer Bühne, die vollgestopft war mit Instrumenten, Mikrofonen, Schaltern, Ständern und einem Wirrwarr an Kabeln, vollführten Holdsworth und Roberts einen unglaublichen Kraftakt akrobatischer Musikalität. Von dem Moment an, an dem das erste Keyboard-Riff des Albums erklang, gab es für die beiden Musiker keine ruhige Sekunde mehr. Barfuß wirbelten sie in einem unglaublichen Tempo und gleichzeitig höchster Präzision zwischen den verschiedenen Instrumenten umher, spielten gern einmal zwei oder sogar drei oder vier gleichzeitig, den nächsten Einsatz dabei immer schon im Nacken sitzend.
Musikalische Perfektion und Kabarett – so lässt sich das Vorgehen beschreiben. Die beiden kommunizierten offen miteinander, gaben sich Einsätze, verdrehten die Augen, wenn mal ein Instrument kurz nachgestimmt werden musste. Es war ein Genuss, Zeuge dieses harmonischen Geschehens zu werden. Der Mix aus Keyboards und harten Gitarrenpassagen, der Part mit der Vorstellung aller Instrumente, die berühmten Röhrenglocken und die musikalischen Themen – all das ist zeitlos und die beiden Künstler übertrugen den Klassiker perfekt in die Gegenwart. Unglaublich, welche Instrumente sie beherrschen mussten: akustische und elektrische Gitarren, Keyboard, Flöte, Glockenspiel, Klavier, Mandoline, Perkussion, natürlich die berühmten „Tubular Bells“ als dominierendes Klangelement, dass trotzdem recht spärlich eingesetzt wird. Auch durch die chorischen Passagen schlug man sich wacker, wenn auch die vokalen Fähigkeiten grenzwertig waren. Egal, die Zuhörer genossen jede Sekunde der Performance.
Zwischendurch gab es eine Pause – „zum Umdrehen der LP“, in Wirklichkeit aber zum Luftholen, denn man sah den beiden die körperliche Anstrengung an, die ein solcher Ritt durch die Musikgeschichte erfordert. „Tubular Bells For Two“ ist eine Mischung aus grandiosem Konzert und unterhaltsamer Show, aus musikalischer Virtuosität und körperlicher Höchstleistung, aus tiefstem Respekt und spitzbübischer Anarchie. Und egal, ob man das Album bereits zu seinen All-Time-Favorites zählt oder gar nicht kennt: Es ist auf jeden Fall ein spannendes, packendes Erlebnis, das man gesehen haben muss.
In Trier gab es nach den letzten Klängen erlösenden Applaus. Mission erfüllt. Als Zugabe spielten die beiden Australier kein weiteres Stück, sondern das Ende von „Tubullar Bells, Part I“, diesmal aber ohne die Ansage der Instrumente. Die ehemalige Kirche St. Maximin ist als Location absolut empfehlenswert und man kann sich nur weitere akustische Highlights dort wünschen.
Pain of Salvation sind eine der wenigen Bands, denen ich durch alle meine musikalischen Anwandlungen hindurch (sei es Dark-Wave, Black Metal oder Power Metal), treu geblieben bin. Genauer gesagt verfolge ich seit der Veröffentlichung von „The Perfect Element“ im Jahr 2000 die musikalische Entwicklung der Band von Prog Metal zum Siebziger-Jahre-Rock auf den letzten beiden „Road Salt“-Alben. Daniel Gildenlöw, Frontmann und einzige Konstante der Band, ist für mich einer der genialsten Musiker und besten Sänger im Rock-Bereich, und daher war es für mich ein wunderbares Erlebnis, endlich ein Interview mit ihm führen zu können – auch wenn der Ort dafür etwas bequemer hätte ausfallen können als das kalte Treppenhaus des Wohnhauses neben dem Turock in Essen. Aber der Backstage ist voll mit den singenden Isländern des Support-Acts Árstíðir und so bleibt uns nichts anderes übrig, als uns ins Treppenhaus zu hocken und die ein- und ausgehenden Bewohner des Hauses höflich zu begrüßen.
Ich habe bei diesem Interview übrigens darauf verzichtet, Fragen zum Mitgliederkarussel in der Bandgeschichte zu stellen, da Daniel Gildenlöw in allen möglichen Interviews schon dazu Stellung genommen hat. Daniel ist übrigens ein sehr gesprächiger Interview-Partner, den man schwer unterbrechen kann, anderseits kann man ihm auch stundenlang zuhören, auch wenn er von Hölzchen auf Stöckchen kommt. Aber lest selbst …
Daniel, das letzte Mal, als ich euch gesehen habe, war das in Leipzig auf einer exklusiven Akustik-Show. Und jetzt seid ihr mit dieser Akustik-Show auf Tour gegangen. Wie kam es dazu?
Daniel: Wir wurden damals gefragt, ob wir nicht diese Akustik-Show in Leipzig machen wollen, und wir fanden, dass es eine coole Idee war. Ich mag es, neue Sachen auszuprobieren und das schien mir eine gute Gelegenheit dafür zu sein. Wir wollten die Show aufnehmen, weil sie eben so exklusiv war, aber dann versagte auf der Show die Technik und das mit der Aufnahme klappte nicht. Aber wir wollten trotzdem gerne ein Akustik-Album aufnehmen, einfach alles im Proberaum durchspielen und es mixen lassen … Das machten wir, hatten aber wieder Probleme mit den Aufnahmen. Dann kam die Idee auf, mit der Show richtig auf Tour zu gehen. Gleichzeitig hatten wir die Idee, das Ganze in einer Art Wohnzimmer stattfinden zu lassen, bzw. wir hatten das schon für die „Road Salt“-Tour angedacht, aber das schien damals nicht das richtige Setting für die Tour zu sein. Für die Akustik-Tour schien das aber genau richtig. Wir begannen also damit, die „Wohnzimmer“-Tour zu planen und hatten eine Menge Ideen, wir wollten z. B. eine Couch und einen Kühlschrank und all so was.
Seid ihr dann richtig auf Flohmärkte gegangen, um die Requisiten zu finden?
Daniel: Ja, wir haben alle möglichen Charity- und Antiquitäten-Läden aufgesucht, um die Möbel zusammenzusuchen, die diesen Vibe hatten, hinter dem wir herwaren. Das gestaltete sich aber schwieriger als wir dachten. Es ist richtig schwer, Siebziger-Jahre-Möbel zu finden. Achtziger sind kein Problem, aber Siebziger sind eine Herausforderung. Und es war in diesem einen letzten Laden, kurz bevor sie Ladenschluss hatten, dass ich durch eine Tür in den Lagerraum sah und da diese coole, große und schwere Couch sah. Und ich musste eine richtige Charmoffensive starten, damit der Angestellte uns hineinließ. In diesem Lager fanden wir viele der Möbel, die wir jetzt auf der Bühne haben.
Ich hatte wirklich gedacht, dass es sehr einfach sein würde, dieses Wohnzimmer zusammenzustellen, aber letztendlich war es viel Arbeit. Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten auf der Tour selbst. An manchen Grenzübergängen hat man uns schon ziemlich schräg angeguckt, als sie diese braun-orangenen Tapeten und das ganze Mobiliar sahen.
Es war euch sehr wichtig, das alles auf euch zu nehmen, um diesen Traum wahrzumachen …
Daniel: Ja, aber es kamen auch noch so viele andere Dinge so schön zusammen. Das Setting sollte natürlich stimmen, aber auch was die Support-Acts anging war ich auf der Suche … ich bin schon seit 1998 Fan von Annekes Stimme, als ich The Gatherings Alben hörte. Und in Griechenland war sie mit Agua de Annique unser Support. Dort spielten sie diese energetische Siebzigerjahre-Musik. Ich fand, dass das perfekt für die Road-Salt-Tour sein würde, aber das haute damals zeitlich nicht hin. Ragnar kannte außerdem diese isländische Band Árstíðir, die ich mir im Netz angeschaut habe und von denen ich richtig beeindruckt war. Für die Akustik-Tour haben wir Anneke und Árstíðir dann noch mal gefragt, und diesmal klappte alles. Anneke und ich spielen übrigens auch auf dieser Tour einen Song zusammen …
Einen Song von Pain of Salvation?
Daniel: Hehe, nein, ich kann es ja jetzt sagen, denn das Interview wird auf keinen Fall vor diesem letzten Gig veröffentlicht werden. Wir singen zusammen einen Song von Kris Kristofferson … obwohl wer weiß, wahrscheinlich ist es schon überall auf youtube zu sehen, was eigentlich richtig schade ist. Denn obwohl ich es cool finde, auf youtube präsent zu sein, finde ich es schade, dass die Leute auf Konzerten mittlerweile in einem Wald voller iPhones stehen, anstatt ihre Feuerzeuge hochzuhalten.
Diese Nostalgie, von der du sprichst, erinnert mich ein wenig an die Nostalgie, die in „1979″ anklingt. Ich habe ja immer diese Astrid-Lingren-Welt vor meinen Augen, wenn ich diesen Song höre. Ist das die Welt, nach der du dich sehnst?
Daniel: Wahrscheinlich ist das so, dass jede Generation dazu neigt, die Zeit, in der sie aufgewachsen ist, zu idealisieren, egal wann das war. Das ist wahrscheinlich in unserer Natur. Aber ich bin der Meinung, dass, obwohl ich wirklich versuche, objektiv zu sein, wirklich etwas verlorengegangen ist. Die Sechziger sind für mich – und ich spreche wirklich nur von meinen Empfindungen – ein Jahrzehnt der Revolution, wo man viel ausprobiert hat und frei war. In den Achtzigern war alles plötzlich wieder so kontrolliert und der Erfolg sehr wichtig. Die Siebziger stechen für mich heraus als eine Art angenehme Pause, eine Art natürliche Brücke zwischen den wilden Sechzigern und den Achtzigern, die für mich beide nicht so interessant sind, auch musikalisch nicht. In den Achtzigern gab es diesen übertrieben Einsatz von Hall und diesen kalten Effekten. In den Siebzigern gab es dieses Gefühl der Ruhe, die politische Bewegung war noch stark, aber nicht mehr so radikal wie in den Sechzigern.
Und diese Zeit zelebrierst du ja auch auf den letzten „Road Salt“-Alben. Wie sieht es mit dem kommenden Album aus, wie geht es von hier aus weiter?
Daniel: Diese Tour entstand ja eigentlich aus einer gewissen Planlosigkeit heraus. Was immer auch jetzt passiert, ist schwer berechenbar. Im Rückblick ist es immer viel einfacher zu sehen, wie natürlich es war, dass die Dinge aufeinander folgten. „Be“ zum Beispiel ist das natürliche Ergebnis der vorherigen Alben, auch „Scarsick“ war die natürliche Weiterführung der vorangegangenen Alben. „Scarsick“ ist intensiver, wütender und politischer als „12:5″ und „Be“, die nicht das richtige Forum für die Ideen gewesen waren, die es auf „Scarsick“ gab. Im Rückblick ist es wirklich einfacher zu sagen, warum dieses oder jenes entstanden ist, andersherum ist es sehr schwierig. Ich kann also momentan nicht sagen, was sein wird.
An der Stelle werden wir erstmal von der Tourmanagerin unterbrochen, denn Daniel soll den Abend eröffnen und einen Song mit Árstíðir spielen – was er dann auch tut. Danach treffen wir uns wieder im Treppenhaus, um das Gespräch fortzuführen.
Weiter geht’s … Es war gar nicht mal so schlecht, diese Unterbrechung zu haben. Ich hatte keine Ahnung, dass die Show so sein würde. Du hast jetzt einige Themen des Abends angesprochen, als da wären der Tod, Demenz und hast ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert usw. … ist das nicht riskant?
Daniel: (lacht) Ja schon, aber ich mag es ganz gerne, bei Shows eine Art Intimität zum Publikum herzustellen und einen Rahmen für die Show zu schaffen.
Wie ist die Reaktion bisher gewesen?
Daniel: Sehr positiv eigentlich, allerdings habe ich heute Abend auch viel mehr geredet, weil es die letzte Show dieser Tour ist. Aber ja, jedes Publikum reagiert anders. Ich taste mich da meistens langsam heran und versuche herauszufinden, ob das Publikum darauf steht oder lieber nur Musik hören will. Heute waren die Leute im Publikum cool, ich hatte das Gefühl, dass sie gerne zugehört und reagiert haben.
Hast du keine Angst, dass es die Leute völlig deprimiert?
Daniel: (lacht) Aaaalso, wenn es irgendwas gibt, das sich in den Jahren mit PoS gelernt habe, ist, dass die Leute durch deprimierende Dinge aufgebaut werden. Ich kann das verstehen, denn stell dir vor, dir geht es schlecht und du hörst fröhliche Musik á la „alles ist voll toll!“ Du wirst dich damit nicht identifizieren können und fühlst dich vielleicht noch isolierter. Aber wenn jemand sagt: „Weißt du was, das Leben ist manchmal halt echt kacke, aber wir sollten versuchen, etwas Cooles draus zu machen, weil es doch wertvoll ist!“, dann kannst du dich eher damit identifizieren … die ersten Jahre sind oft Leute nach Gigs zu uns gekommen, denen wirklich schreckliche Dinge passiert sind – z. B. der Verlust von Eltern, Freunden oder gar Kindern – und unsere Musik hat ihnen anscheinend durch diese schwierigen Zeiten geholfen. Ich habe mich damals gewundert, aber so ist es anscheinend.
Ich habe das Gefühl, dass du dich in den letzten Jahren sehr von dieser schweren und aggressiven Musik verabschiedet hast. Die „Road Salt“-Alben kommen ja viel beschwingter und fröhlicher rüber …
Daniel: Fröhlich?? Wirklich??
Ja schon, obwohl ein paar Themen natürlich nicht weg sind. Als großer Fan darf man ja manchmal auch Scherze über seine Lieblingsmusiker machen …
Daniel: Ja, klar. Na ja, vielleicht … okay, sag es! (lacht)
Okay, bring mich nicht um, es ist ja nur mein Eindruck … in deinen Texten gibt es so viele leidende Frauen. Sie weinen immer und sterben und leiden …
Aaaaaaah, hmm, also, da bräuchte ich mehr Details … ja, es ist entweder persönliche Erfahrung, dann ist es halt so und man sollte nicht erwarten, dass es politisch korrekt ist. Aber wenn du z. B. „Mrs. Modern Mother Mary“ nimmst, geht es im Text genau darum, wie Frauen über die Jahrhunderte hinweg unterdrückt wurden. Gerade dieser Song handelt von dem Kampf um Gleichberechtigung und wie Religion die Gesellschaft beeinflusst. Du hast auf der einen Seite Maria Magdalena und auf der anderen Seite Maria, die Mutter. Und das hast du immer noch – und beide Marias leiden. Die Marias sind heute immer noch zu Hause und versuchen, Kinder aufzuziehen und die anderen sind im Internet, auf Porno-Seiten zu sehen. Die Heiligen und die Huren eben, wenn man es vereinfacht darstellen will.
Hmm, da du gerade eben das Thema Religion ansprichst. Wie sieht es damit aus? Ihr spielt ja des Öfteren ein Cover von „Halleluja“ am Ende eurer Konzerte. In Leipzig hast du auf der Bühne gesagt, in dem Song ginge es um Sex und nicht um Religion …
Daniel: (lacht) Ja, und es stimmt ja auch, da geht es gar nicht um Religion. In „Halleluja“ geht es darum, sich in der Sexualität und in Beziehungen zu verlieren. Es geht aber darum, dass Beziehungen in Kämpfe ausarten, in denen es um Gewinnen und Verlieren geht. Auf eine gewisse Weise geht es darin auch um Sucht. Meine Vermutung ist, dass er (Anm. d. Redaktion: Leonard Cohen) zu einem Zeitpunkt in seinem Leben sexsüchtig war und dass es in diesem Song auch um die Trauer geht, ein Problem mit Beziehungen zu haben. Ich finde den Text wunderschön, sehr sinnlich und gleichermaßen positiv und sehr traurig. So ein bisschen wie die Freude einer Ejakulation (lacht), es ist schön, aber gleichzeitig kommt danach eine Leere. Es ist das Fehlen von Größe und Erfüllung im Leben. Das Leben ist letztendlich ein Halleluja des Kommens – in jemandem (Anm. d. Red.: okay, im Original sagt er: „a halleluja of coming into someone“). Für was für ein Magazin war dieses Interview noch mal? (lacht)
Playgirl halt … es ging von Anfang an nicht um Prog sondern Pornos …
Daniel: Dann bin ich ja froh. (lacht)
Okay, also wie steht es denn jetzt mit der Religion. Oder findest du die Frage doof?
Daniel: Nein nein, aber wenn Leute nach Religion fragen, dann habe ich das gleiche Gefühl, wie wenn Leute nach Prog fragen. Dann denke ich immer, okay, ich kann jetzt höflich sein und die Frage umschiffen, ohne sie wirklich zu beantworten, und ohne irgendwelche Leute anzugreifen. Ich persönlich habe keinen Vertrag mit Religion. Ich bin der Meinung, dass jede Art von Religion falsch ist. Darum geht es z. B. in „Be“, obwohl seltsamerweise unheimlich viele religiöse Menschen dieses Album toll finden. Wo doch die Essenz des Albums ist, dass viele Dinge, die als Werkzeuge für die Menschen geschaffen wurden, die Menschen beherrschen. Und Dinge, die dazu da geschaffen wurden, die Menschen zu beherrschen, am Ende nur Werkzeuge werden. Es gibt also eine ständige Verschiebung der Paradigmen: Wir erschaffen Geld als Werkzeug und es wird zum Herrscher über alles, wir kreieren Gott als unseren Herrscher und er wird zum bloßen Werkzeug. Ich habe in einem meiner frühen Interviews eine Parabel aufgestellt: Religion ist für mich wie, wenn zwei Menschen in einer zweidimensionalen Welt leben und für eine Sekunde einen Zylinder zu sehen bekommen. Beide sehen diesen Zylinder von einer anderen Seite, der eine sieht ein Rechteck, der andere einen Kreis. Und in der zweidimensionalen Welt dieser beiden gibt es keine Figur, die sowohl ein Rechteck als auch ein Kreis sein könnte. Das funktioniert nicht, weil es auf einer höheren Ebene existiert als sie es sich vorstellen können. Und so gründet der eine die Rechteck-Religion und der andere die Kreis-Religion. Und bis zum Ende ihrer Tage und der Tage ihrer Kinder und Kindeskinder werden sie nicht aufhören, sich darum zu prügeln oder gar zu töten. Für mich ergibt das Ganze keinen Sinn. Dieser Kampf muss aufhören. Das ist für mich das Wichtigste.
Ich war im Urlaub im Jordan und wir waren am Strand. Unser ältester Sohn war gerade mal ein Jahr alt und spielte mit einem arabischen Jungen, der mit seinem Vater da war. Und es kam uns so wunderschön vor, so nach dem Motto „Ach, wie schön, Kinder kümmern sich nicht um Hautfarbe und Nationalitäten, sie spielen einfach.“ Wir fühlten uns sehr stolz und plötzlich fingen sie an, sich richtig zu kloppen, so dass ich und der Vater des anderen Jungen dazwischen gehen mussten. Wir hatten solche Angst und haben versucht, sie dazuzubringen, sich zu versöhnen, während wir uns mit einem leicht entschuldigenden Lächeln anguckten. Danach war alles wieder in Ordnung. Und so eine Funktion sollte Gott eigentlich haben, er sollte die Leute davon zurückhalten, miteinander zu kämpfen. Darum geht es bei Religion vielleicht auch, nämlich darum, dass Menschen ab und an jemanden brauchen, der die Elternrolle übernimmt und ihnen sagt, was sie tun sollen.
Man denkt, wenn man erwachsen ist, bräuchte man keine Eltern, weil man kein Kind mehr ist. Aber ich glaube, dass man egal wie alt man ist, in erster Linie eine Person ist, und als eine Person brauchst du manchmal einen Elternteil, der einem sagt, was man tun und lassen sollte.
Ich bin der Überzeugung, dass Religion von Menschen gemacht sein muss und allein schon aus diesem Grund kann sie nicht unfehlbar sein. Wenn ein zweidimensionales Wesen versucht, dreidimensional zu sein, dann wird das einfach nicht funktionieren. Religionen haben zwar ganz nette Regeln und Gebote, aber am Ende gehen sie hin und töten einander. Sie nutzen Gott also als ein Werkzeug. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass wenn es Gott gäbe, dass das in seinem oder ihrem Sinne wäre, dass er oder sie als Werkzeug benutzt wird.
Wie sieht es denn mit Spiritualität aus?
Daniel: Ich weiß nicht genau, was Spiritualität bedeutet. Ich kenne Leute, die Selbstfindungskurse besuchen, wo sie in eine Tapete eingewickelt werden und einer setzt sich auf sie, damit sie die Geburt neu erleben können. Das nennen sie dann Spiritualität. Oder Leute, die meditieren und versuchen, dabei an rein gar nichts zu denken, und das dann Spiritualität nennen. Manche versuchen, die Zukunft vorherzusehen und nennen wiederum Spiritualität. Für mich ist Spiritualität ein großer Mülleimer für alles, was sich nicht mit empirischem Wissen belegen lässt.
Und Spiritualität einfach als die Fähigkeit zu sehen, sich in etwas zu verlieren?
Daniel: Ja, das unbedingt. Musik, Bücher, Kunst, wenn du das alles meinst, bin ich dabei. Für mich ist das Leben binär, existent und nicht-existent. Und ich ziehe einfach das Lebendige vor.
Ich bin überrascht, denn ich habe dich aufgrund deiner Musik für einen spirituellen Menschen gehalten. Und ich hätte nicht gedacht, dass du so ein rational denkender Humanist bist.
Daniel: Oh, ich kann auch sehr irrational sein (lacht). Ich denke, wenn es etwas gibt, das größer als das Leben ist, dann werde ich es eh nicht verstehen. Letztendlich musst du einfach nur nett sein und auf dein Herz hören oder manchmal auch nicht, hehe, und mehr kannst du auf dieser Welt nicht tun. Ich bin sicher, dass selbst wenn irgendwer uns erschaffen hat, was ich für sehr unglaubwürdig halte, dass er dafür sorgen wird, dass diejenigen, die sich gut verhalten haben, auch dann in diese bessere Welt eintreten, wenn sie nicht eine bestimmte Religion hatten. Ich kann das Konzept des Glaubens schon irgendwie verstehen, aber ich habe keine Wertschätzung für Religion. Selbst bin ich einfach zu alt, um zu glauben. Ich habe es versucht, aber ich habe das alles hinter mehr oder werde wohl auch nicht mehr zurückkehren.
Das ist eine sehr abgeklärte Haltung. Hat sich das auch in der Entwicklung deiner Musik niedergeschlagen? Wenn man es simpel verpacken will, kann man ja sagen, dass auf den Frust und die pubertären Elemente in der Musik – wenn ich das so sagen darf …
Daniel: (lacht) Ja, es war pubertär!
… doch eine viel erwachsenere geerdetere Musik gefolgt ist. So als wärst du mit dir mehr oder weniger im Reinen.
Daniel: Nee, ich denke nicht, dass ich mit mir im Reinen bin. Ich habe einfach neue Wege gefunden, meine Gefühle zu kanalisieren. Die Texte der „Road Salt“-Alben zum Beispiel beschäftigen sich immer noch mit ähnlichen Themen wie die Alben davor, aber es ist nicht mehr alles so in-the-face, sondern tiefgründiger. Ich würde sagen, dass sie subtiler sind, während die alten Alben melodramatischer und pompös daherkommen mit großen Gesten – was allerdings auch manchmal wichtig sein kann. Wenn ich es mit Filmen vergleichen würde, dann würde ich meine jetzige Musik mit „Being John Malkovich“, „Vergiss mein nicht“, „Adaptation“ oder „The Big Lebowski“ vergleichen. Diese Filme handeln von großen Themen, haben aber auch viel Humor und Wärme. Man kann sie sich auf viele verschiedene Arten anschauen. Und sie handeln alle von der Komplexität des Lebens. Denn wenn ich etwas in meinem Leben gelernt habe, ist es die Tatsache, dass das Leben sich nicht für den Ernst interessiert. Du kannst sich in einer ernsten Situation befinden und trotzdem passiert zur gleichen Zeit etwas Witziges, denn das Leben zielt nicht auf irgendetwas hin. Manche religiöse Menschen würden jetzt sicherlich widersprechen. Aber ich könnte jetzt einen Anruf bekommen, dass mein Vater gestorben ist und während ich mich hastig aufmache, könnte ich im Treppenhaus stolpern. Das würde in normalen Filmen nicht passieren, aber im normalen Leben passiert so was andauernd. Und in diesen Filmen, die ich genannt habe, wird gerade diese Unvorhersehbarkeit des Lebens, die gleichzeitig schön und traurig ist, zugelassen. Es ist, was ist es. Eine meiner Lieblingsfilmszenen ist die Szene in „The Big Lebowski“, wo Walter und der Dude Donnys Asche verstreuen, mit diesem militärischen Ernst und dann bekommt der Dude die ganze Asche ins Gesicht. Der Dude rastet richtig aus, aber am Ende umarmen sie sich wieder, denn das ist ihre Art, mit ihrer Trauer fertig zu werden. Das ist traurig und unheimlich witzig zugleich. Ich liebe das sehr! Das Gleiche gilt auch für meine Musik, denn man braucht eine große Anzahl verschiedener Emotion, damit sie wirklich funktioniert und echt ist.
Zum Schluss geht es natürlich um die Zukunft. Wie sehen deine Pläne für PoS aus?
Daniel: Die letzten Alben haben wir in Proberäumen aufgenommen und ich würde so gerne wieder in ein Studio gehen. Ich möchte allerdings auch nicht die Intimität verlieren, die so typisch für Pain of Salvation ist. Das ist aber alles, was ich jetzt gerade dazu sagen kann. In ein paar Jahren werden wir uns wahrscheinlich treffen und sagen: „Mensch, dass war doch klar, dass da dieses oder jenes Album kommen musste.“ Wir werden es sehen!
Daniel, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast!
Pain Of Salvation aus Schweden können auf eine über 20-jährige Bandgeschichte zurückblicken, in denen sie acht Studioalben veröffentlicht haben, die in keiner Musiksammlung von wahren Prog-Fans fehlen sollten. Mit den letzten Alben „Road Salt 1″ (2010) und „Road Salt 2″ (2011) hatte Frontmann Daniel Gildenlöw eine Richtung eingeschlagen, die sich musikalisch wieder mehr dem Geiste der Siebziger Jahre verschrieben hatte. Vorbei die Zeiten von komplizierten und pathosgeschwängerten Songs, die neue Devise von Pain of Salvation lautet seither: Erdiger Rock ohne Pomp und Gloria. Und so passt es vielleicht auch, dass die Band im Frühjahr 2013 auf eine Akustik-Tour ging. Schon 2012 hatte es ein Akustik-Konzert in Leipzig gegeben, das zunächst als exklusive Show gemeint war und dann doch die Initialzündung für eine ganze Tour wurde.
Die zahlreichen Besucher, die an diesem Sonntagabend in Essen das Turock besuchen, um sich von der akustischen Darbietung von Pain of Salvation überraschen zu lassen, erwartet beim Eintritt ein ganz besonderes Setting: Die Bühne ist zum Wohnzimmer umdekoriert worden, und zwar mit allen Schikanen! Eine alte Couch, mehrere Sesseln, Lampen, Siebziger-Jahre-Tapeten und Jimmy-Hendrix-Poster an der Wand. Die Message: Fühlt euch wie zu Hause. Und sehr familiär geht es dann auch an diesem Abend zu. Es ist die letzte Show von Pain of Salvation und ihrer Supports Anneke van Giersbergen und Árstíðir, als Konzertgänger kann man also auf einige Überraschungen gespannt sein …
Daniel Gildnlöw höchst persönlich begrüßt die Gäste. Während er auf der gemütlichen Couch Platz nimmt, hält er erstmal einen Monolog über den kommenden Abend. Es geht darin um die großen Themen: Demenz, Tod und Ähnliches – allerdings mit einem Augenzwinkern – und dabei erzählt er von der Großmutter seiner Frau, die an Altersdemenz leidet und immer wieder die gleichen Geschichten erzählt, die – so vermutet Gildenlöw – aus irgendeinem bestimmten Grund ihre persönlichen Schlüsselerinnerungen sein müssen. Und während er darüber philosophiert, was wohl seine Schlüsselerinnerungen im Alter sein werden, klingelt es „an der Tür“ und herein kommen die fünf Musiker von Árstíðir aus Island. Gemeinsam mit ihnen eröffnet Gildenlöw den Abend, und zwar mit einer wunderschönen akustischen Version von Pain of Salvations „Road Salt“. Den Rest von Árstíðir muss ich leider verpassen, weil ich das Interview, das ich bereits vor deren Auftritt mit Gildenlöw angefangen habe, weiterführen muss. Ich habe mir aber sagenlassen, dass die Show von Árstíðir wunderschön war: Sanfter und ruhiger Folk mit vielstimmigem Gesang.
Ich komme erst dann wieder in die Halle, als Daniel und seine Mitmusiker Anneke van Giersbergen mitten in ihrem Auftritt überraschen, indem sie jeder mit einem Besen in der Hand die Bühne betreten und die überraschte und belustigt grinsende Anneke gesanglich begleiten. Nach Abgang der Überraschungsgäste habe ich noch das Vergnügen, einige Songs von Anneke, die sie auf der Gitarre vorträgt, mitzubekommen und obwohl ich noch nie ein großer Fan von The Gathering war, muss ich sagen: Annekes Stimme ist einfach großartig und die Frau umwerfend gut (abgesehen davon, dass sie toll aussieht und unheimlich witzig ist). Für besonders heitere Stimmung sorgte übrigens ihr Cover-Song von Dolly Partons „Jolene“, bei dem doch der eine oder andere im Publikum mitsingen musste …
Dann ist es endlich Zeit für den Hauptact und wer gedacht hat, dass er dabei entspannen kann, hat die Rechnung ohne Gildenlöw gemacht. Denn er nimmt das Publikum auf eine abenteuerliche Reise durch das vielfältige Werk der Band. Man kann fast von Neu-Interpretationen reden, denn die Kreativität, mit denen altbekannte Songs wie z.B. „Falling Home“, „Ashes“, „Spitfall“ (Eminem lässt grüßen!) oder „Diffidentia“ neu arrangiert wurden, ist atemberaubend und genial. Hinzukommen noch einige Cover-Songs. Der erste ist Kris Kristoffersons „Help me make it through the night“, der von Daniel gemeinsam mit Anneke und einem der Árstíðir-Musiker auf der Couch dargeboten wird – inklusive Lach- und Kuschelanfällen (ich kann leider nicht sagen, welcher der fünf Árstíðir-Männer es war, denn er trug eine enorm große Perücke mit blonden Locken …). Wenig später gibt es eine absolut hirnverbrannte, aber göttliche Jazz/Reggae-Version von DIOs „Holy Diver“, die die Stimmung im Saal zum Kochen bringt. Richtig getanzt wird allerdings erst bei „Disco Queen“ (quasi DER „Dancefloor-Hit von PoS), und zwar sowohl vor als auch auf der Bühne, denn alle Musiker von Árstíðir und Anneke stürmen während des Songs die Bühne und tanzen sich auf den Tischen und Sesseln die Seele aus dem Leib! Noch ein Cover gibt es, und zwar „Dust in the Wind“ – mit Gildenlöws überirdischer Stimme: Zum Niederknien schön!
Konzerte von Pain of Salvations sind immer musikalische LSD-Trips, berauschend und bewusstseinserweiternd, aber man darf dabei nicht unerwähnt lassen, dass Daniel Gildenlöw auch ein begnadeter Alleinunterhalter ist. So erinnert er sich, wie er als Fünfzehnjähriger gepeinigt vom ersten Liebeskummer den schmalzigen Song „Second Love“ schrieb (ja, er ist schmalzig aber auch wunderschön). Herrlich, wie er sich über Textzeilen wie „you came like the wind“ und „night after night, the stars are shining so bright“ beömmelt, nur um den Song mit einer Innbrust anzustimmen, dass kein Auge trocken bleibt. Der emotionale Höhepunkt und gleichzeitig der Abschluss eines unvergesslichen Konzerts und einer fabelhaften Tour ist aber „1979″ aus dem letzten Album der Band. Für mich DAS heile-Welt-und-gute-Laune-Lied schlechthin Und während der ganze Saal jubelt, klatscht, glücklich lacht und die Chips-Tüte kreisen lässt, die Daniel neben sehr viel Obst im Publikum verteilt hat, lassen sich noch mal alle Musiker auf der Bühne feiern. Wer an diesem Abend nicht mit einem seligen Grinsen nach Hause geht, sollte dringend einen Arzt aufsuchen. Für mich bisher das Konzert des Jahres!